Sand­körn­chen in der Wüste

Ein Gespräch mit Regisseur Barrie Kosky über einen einzigartigen Komponisten, einen rätselhaften Pharao und archäologische Sandkastenliebe

Bevor wir über das Stück Echnaton sprechen, sollten wir uns zunächst einmal genauer mit dem Komponisten Philip Glass beschäftigen. Wie bewertest Du seine Rolle als Künstler im 20. Jahrhundert?

Barrie Kosky: Ich glaube, dass Philip Glass nach George Gershwin der weltweit bekannteste amerikanische Komponist ist. Gershwin hat durch seine unglaubliche Kombination aus amerikanischem Jazz und europäischer Musik eine große Neuerung in die Musik des 20. Jahrhunderts gebracht. Bei Glass hingegen ist seine vollkommene Abkehr von vielen europäischen musikalischen Formen sehr bemerkenswert. Er wurde von asiatischer Musik und Sufi-Traditionen beeinflusst, die er in seine Musik aufgenommen hat und durch diese neuen Impulse ist er weltweit bekannt geworden. Er hat für nahezu jede Gattung geschrieben – sinfonische Musik, Opern, Kammeropern und natürlich Filmmusik. Seine erste Filmmusik zu Koyaanisqatsi habe ich als Student kennengelernt. Später hat er dann auch Musik für große Hollywood-Filme geschrieben. Das bedeutet, dass seine Musik, wie im Falle von Gershwin, nicht nur in Konzertsälen und Opernhäusern gespielt wird, sondern dass sie eine Brücke zur Popkultur schlägt. Dass man ein großer Künstler der Kunstmusik ist und zugleich auch einer großen Masse bekannt, kommt sehr selten vor. Glass polarisiert zudem extrem: Man liebt ihn oder man hasst ihn. Es gibt keinen Mittelweg. Man geht nicht einfach mal so in Echnaton. Entweder freut man sich riesig auf dieses Erlebnis oder man kommt gar nicht erst auf die Idee, sich eine Karte zu kaufen, weil man die Musik von diesem Mann nicht ertragen kann.

Echna­ton (Akhna­ten)
Philip Glass

Oper in drei Akten [ 1984 ]

Libretto von Philip Glass in Zusammenarbeit mit Shalom Goldman, Robert Israel, Richard Riddell und Jerome Robbins

©1983 Dunvagen Music Publishers Inc. Used by Permission.
Du hast von Deiner Begegnung mit Glass’ Musik im Studienalter gesprochen. Gibt es für Dich darüber hinaus Berührungspunkte mit seiner Musik?

Barrie Kosky: Für mich persönlich ist Philip Glass spannend, weil ich ein großes Interesse an den jüdischen Komponisten des 20. Jahrhunderts habe. Philip Glass, wie auch sein musikalischer Bruder Steve Reich, waren beide offen jüdische Komponisten. Steve Reich hat viele Stücke auf Hebräisch geschrieben und hat großes Interesse an der Musik und vor allem am Rhythmus des Nahen Ostens, so auch Philip Glass. Man kann sagen, dass er in einer langen Tradition von jüdischem Denken und jüdischem Glauben des 20. Jahrhunderts steht. Es gibt Sufi-Elemente in seiner Musik, aber auch kabbalistische Elemente.

Seine Musik wird der Minimal Music zugeordnet – eine Kategorisierung, die durchaus auch umstritten ist, vor allem, wenn man bedenkt, dass Komponisten wie Steve Reich und John Adams, die ebenso in diese Schublade gesteckt werden, durchaus eigene Ansätze verfolgt haben …

Barrie Kosky: Viele in der Musikwissenschaft haben Vorurteile gegenüber Glass, weil seine Musik populär ist und sie denken, dass sie einfach sei. Das halte ich für Snobismus. Was Glass geschaffen hat, war eine total neue Form in der klassischen Musik. Es gibt nur wenige Momente in der Musikgeschichte, wo so etwas passiert ist. Ob man Glass mag oder nicht – man muss sich eingestehen, dass er etwas verändert hat. Er hat einen so charakteristischen Stil, dass man nach zwei Sekunden weiß, dass es Philip Glass ist. Von wie vielen Kunstschaffenden des 20. Jahrhunderts kann man das sagen? Steve Reich benutzt dagegen ganz andere Formen. Ich muss immer lachen, wenn Leute sagen, dass Philip Glass und Steve Reich in dieselbe Schublade gehören. Das sind zwei komplett unterschiedliche Farben und unterschiedliche Künstler – und ich liebe beide!
Was genau fasziniert Dich an der Musik von Glass?

Barrie Kosky: Ich finde, dass seine Musik in jeder Hinsicht einzigartig ist. Man muss sich immer fragen, warum diese unendlichen Arpeggien da sind, diese zahlreichen Wiederholungen und diese kleinen Verschiebungen in den Harmonien und Rhythmen, mal nach vier, mal nach sechs, dann wieder nach acht Takten – warum ist diese Musik so populär und wird in der ganzen Welt gespielt? Warum ist jede Vorstellung unserer Produktion schon drei Wochen vor der Premiere ausverkauft? Der Grund ist, dass uns die Musik durch diese endlosen Zeitloops und Kreise etwas gibt, das tief mit der menschlichen Seele verbunden ist. Glass hat durch seine Beschäftigung mit Hindi- und Sufi-Musik etwas Entscheidendes gefunden: Die Musik ist fast wie ein Mantra. Echnaton ist eigentlich keine Oper, sondern ein gespieltes Mantra.

Kommen wir von Glass zu Echnaton – ebenfalls eine besondere Persönlichkeit. Was ist so faszinierend an diesem ägyptischen Pharao, um den sich zahlreiche Mythen ranken?

Barrie Kosky: Im Gegensatz zu Philip Glass, der weltberühmt ist und von dem man alles weiß, ist Echnaton weltbekannt, aber man weiß fast nichts von ihm. Ich glaube, dass es kein Zufall ist, dass sich Glass in seiner Trilogie nach Einstein und Gandhi, die die Bereiche Wissenschaft und Politik abgedeckt haben, bei dem abschließenden Thema Religion für Echnaton entschieden hat.

Personen wie Thomas von Aquin, Moses oder Abraham hätten ihm nicht dieselbe Internationalität gegeben. Die Faktenlage ist bei dieser ägyptischen Legende allerdings sehr begrenzt. Wir wissen, dass Echnaton ein Pharao in einer besonderen Zeit war. Wir wissen, wer sein Vater und seine Mutter waren und dass seine Frau Nofretete war. Wir wissen, dass er irgendwann in der Anfangszeit seiner Herrschaft eine große religiöse Reform durchführte, in der es nicht mehr viele unterschiedliche Götter geben sollte, sondern nur noch einen Gott – den Sonnengott. Die Quintessenz bestand darin, dass sich Echnaton selbst als Sohn dieses einzigen Sonnengottes sah und sich somit als dessen lebendige Verkörperung auf der Erde inszenierte. Wir wissen auch, dass er eine riesengroße Stadt für diesen religiösen Umsturz erbaute und dass nach dem Tod von Echnaton die nächsten Generationen versucht haben, seinen Namen, seine Philosophie und sein Wirken aus der ägyptischen Geschichte komplett auszuradieren. Mehr wissen wir eigentlich nicht. In der Forschung wird dieses Kapitel als Anfang des Monotheismus angesehen. Sehr viel später haben die israelitischen Stämme diese ägyptischen Ideen auf ihren Reisen womöglich mitbekommen und weitergegeben. Das bedeutet, dass der Monotheismus eigentlich nicht mit Abraham beginnt, sondern mit Echnaton. Gerade weil es nur wenig Fragmente über sein Leben gibt, scheinen wir heutzutage wie besessen von diesem Mann zu sein. Es gibt die wildesten Theorien darüber, wer er eigentlich war. Manche glauben, er sei ein bisexueller Hermaphrodit gewesen, andere denken, dass er ein autoritärer Kriegspharao war. Wieder andere sehen in ihm das absolute Symbol von ägyptischer Dekadenz. Ich glaube, dass Echnaton einer der interessantesten Charaktere der Weltgeschichte ist und finde es spannend, dass der Mann, der den Monotheismus entdeckt und gelebt hat, über Jahrtausende verschwunden ist.
In Deiner Inszenierung hast Du bemerkenswerterweise auf Bezüge zum antiken Ägypten bewusst verzichtet ...

Barrie Kosky: Das, was Philip Glass und seine Librettisten geschaffen haben, ist letztlich kein biografisches Stück. Es ist keine biografische Oper, es ist keine Geschichte, es ist keine psychologische Studie – daran hatten sie kein Interesse. Philip Glass wollte vielmehr ein Ritual komponieren. Das bedeutet, dass es nicht notwendig ist, sich in unserer Berliner Inszenierung im Jahr 2025 mit historischer ägyptischer Authentizität zu beschäftigen. Als Kind war ich tatsächlich besessen von Archäologie. Ich war besessen von Howard Carter, Tutanchamun, hatte endlos viele Bücher darüber und Plakate an meiner Wand. Ich wollte nur noch in Ägypten leben, um selbst Ausgrabungen zu machen. Jetzt mache ich dasselbe mit Oper und Theater. Ich bin gewissermaßen ein anderer Typ von Archäologe geworden. Als ich mich entschieden habe, Echnaton hier in Berlin zu inszenieren, war mein erster Instinkt, etwas mit Bezug zu Kolonialismus und Ägyptologie zu machen – ich meine, wir haben ja sogar Nofretetes Büste hier im Neuen Museum. Aber schon nach ein paar Stunden habe ich gemerkt, dass das nichts mit der Oper zu tun hat und man mit so einem Konzept nur in eine Sackgasse kommt. Es war nicht Philip Glass’ Wunsch, ein historisches Dokument zu schreiben. Es geht mehr um das Fragment eines Lebens, das im Sand der Wüste verschwunden ist. Nur noch der wandelnde Geist von Echnaton ist geblieben. Das war der Ausgangspunkt meiner Inszenierung.

Welche Aspekte hast Du anstelle der historischen Ägypten-Anspielungen in Deine Inszenierung eingearbeitet?

Barrie Kosky: Das Stück besteht aus verschiedenen Szenen, in denen allerdings sehr offen ist, wie man sie inszenieren soll. Das bedeutet, Philip Glass gibt uns vor, dass zum Beispiel die erste Szene die Beerdigung von seinem Vater ist, aber dann hören wir neuneinhalb Minuten Musik, ohne weitere konkrete Hinweise zu bekommen. Es folgt die nächste Szene, die Krönung von Echnaton: Nichts ist da, außer, dass Echnaton eben der neue König wird – 10 Minuten Musik. Dann kommt ein Trio mit seiner Mutter und seiner Frau, das schlicht als »The Window of Appearances« betitelt ist – wieder keine Regieanweisungen. Es kommt zu einer Szene namens »The Temple«, wo die Zerstörung der alten Ordnung dargestellt wird, zu einem Liebesduett zwischen Echnaton und Nofretete, zu einem Tanz etc. Diese wenigen Vorgaben geben der Regie viel Freiheit und sind für mich eigentlich wunderbar. Fatal wird es aber, wenn man diese Szenen mit pseudorealistischen Bildern vollpackt. Das nimmt alle Kraft aus der Musik. Man muss dem Publikum bei Glass’ Opern zeigen, dass die Musik der Motor und der Auslöser all dieser Sachen ist. Ich habe mich entschlossen, eine Serie von abstrakten Bildern zu erstellen. Meine Inszenierung ist nicht spezifisch, sie ist vielleicht die abstrakteste Inszenierung, die ich je gemacht habe. Es fängt an mit dem Begräbnisritual, das im Alten Ägypten von großer Bedeutung war. Ich glaube, dass es für Glass sehr wichtig war, dass der Tod der Ausgangspunkt seines Stückes ist. In meiner Inszenierung sehen wir dann in sehr einfachen Bildern die Beziehung eines Mannes zu seiner Mutter, zu seiner Frau und auch zum Volk.
Wie interpretierst Du das Verhältnis zwischen dem Volk und Echnaton?

Barrie Kosky: Letztlich sehen wir im Stück eine Notwendigkeit für das Volk, diese besondere Persönlichkeit nicht nur zu haben, sondern sie sich auch zu erträumen. Es ist der Traum des Volkes – das Bedürfnis, jemanden an der Spitze zu haben, der einem Antworten geben kann. Ich würde sagen, dass man in Echnaton nicht einer Geschichte folgt, man folgt einer Serie von Bildern und Tableaus und man folgt einer Serie von Ritualen und Songs, durch die man in eine Welt geht, in der das Volk träumt. Letztlich attackiert und tötet das Volk ihr Ideal, nachdem es enttäuscht wurde. Das Volk zieht weiter und der Mann verschwindet. Das klingt natürlich ein bisschen banal, aber das ist es, was ich versuche zu machen. Durch die Bewegung, durch die Musik und durch die Texte geht man in diese Welt und ist fast wie in einem Labyrinth. Man geht hier hin, man geht dort hin, man ist verloren. Was man dann auf der Bühne oder im Graben erfährt, ist ein schönes, merkwürdiges, theatrales Mantra. Es ist ein Gebet. Das ganze Stück ist eigentlich ein Gebet. Man muss dieser Musik durch sehr einfache Bilder und Bewegungen einen Raum geben. Eigentlich ist die Musik die Inszenierung.


Stichwort Bewegung: Eine wichtige Rolle nimmt in dieser Inszenierung auch das Tanzensemble ein. Du hast Dich allerdings bewusst dazu entschlossen, keinen Choreografen im traditionellen Sinn einzusetzen. Warum?

Barrie Kosky: Ich bin ein Regisseur, der seit vielen Jahren sehr spezifische Choreografien macht. Meine Inszenierungen sind eigentlich immer hoch choreografiert, nicht weil ich in den Proben jedes Detail ansage, sondern weil ich sehr körperliches Theater mache. Ich habe in den letzten Jahren insbesondere mit Otto Pichler in meinen Operetten und Musicals zusammengearbeitet. Otto ist ein sehr wichtiger Teil meines künstlerischen Lebens. Ich habe ihm jedoch gesagt, dass ich in Echnaton keine Otto-Pichler-Choreografie brauche. Er hat so einen besonderen Stil und obwohl wir auch viele ernste Opern gemacht haben wie etwa The Bassarids, habe ich festgestellt, dass ich etwas anderes von dem Tanzensemble möchte. Ich wollte bei Echnaton eine eigene Bewegungssprache entwickeln. Ich sage nicht, dass ich deshalb jetzt Choreograf bin und möchte auch nicht auf dem Programmzettel als solcher genannt werden. Es hat auf jeden Fall Spaß gemacht, mit dem Tanzensemble solche Bewegungssequenzen zu entwickeln. Mit dem Chor konnte ich dann ebenfalls mit diesen Sequenzen arbeiten, sodass eine sinfonische Form von Bewegung auf der Bühne zu erleben ist. Ich mache das aber nur in dieser Inszenierung, das ist nicht der Anfang einer Karriere als Choreograf und es ist auch nicht der Versuch, einen neuen Tanzstil zu entwickeln. Natürlich tanzen sie in ein paar Momenten, aber dieser Tanz entwickelt sich organisch aus Improvisationen und dem freien Arbeiten im Proberaum.

Das klingt alles in allem nach einer einzigartigen theatralen Erfahrung, die uns durchaus fordert und emotional mitnimmt ...

Barrie Kosky: Was dieses Stück so interessant macht, ist, dass ein tiefer melancholischer Duft über allem schwebt. Die Musik fühlt sich fast so an, als wäre man in der Wüste und würde einen Sandsturm beobachten. Mehr noch als bei Einstein on the Beach und Satyagraha sagt dieses Stück etwas über Hoffnung, Zeit, Erinnerung, Vergangenheit und Träume aus. Es macht uns glaube ich sehr klein. Das ist es, was Geschichte macht. Im Angesicht der Geschichte fühlt man sich sehr klein. Nach diesen zwei Stunden fühlen wir uns alle wie kleine Sandkörnchen in der Wüste.
März 2025
https://www.komische-oper-berlin.de/ Komische Oper Berlin Bismarckstraße 110, 10625 Berlin
Fr
28.
Mrz
19:00
Schillertheater – Großer Saal
April 2025
https://www.komische-oper-berlin.de/ Komische Oper Berlin Bismarckstraße 110, 10625 Berlin
Sa
5.
Apr
19:30
Schillertheater – Großer Saal
https://www.komische-oper-berlin.de/ Komische Oper Berlin Bismarckstraße 110, 10625 Berlin
Fr
11.
Apr
19:00
Schillertheater – Großer Saal

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16. März 2025
John Holiday, der Countertenor, übernimmt mit wenigen Noten den Raum. Seine ruhige Präsenz und natürliche Eleganz lassen den von sich selbst berauschten Pharao am Ende als Sympathiefigur erscheinen.
Rüdiger Schaper, Der Tagesspiegel
»Echnaton« an der Komischen Oper: Triumph eines gottgleichen Tyrannen

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16. März 2025
Jonathan Stockhammer leitet das Orchester des Hauses mit großer Ruhe und Präzision, die Musiker stellen nimmermüd einen farbigen und differenziert gewebten Teppich her – und das ist wörtlich im Sinne von Knüpfkunst zu verstehen und nicht als Fußabtreter, dem man keine Beachtung schenkt.

Nicht weniger erstaunlich der von David Cavelius einstudierte Chor, der zugleich in aufregendster Weise bewegt wird. Zusammen mit den schwindelerregenden Pantomimen der Tänzer ergeben sich motorische Muster auf der Bühne, die die Musik kongenial ergänzen. Mit John Holiday schließlich steht ein Echnaton der Superlative auf der Bühne: Stimmlich klar und unermüdlich präsent, bildet seine ruhige, konzentrierte Darstellung den Fokus der Bühne. Klanglich wird er aufs Wohlklingendste ergänzt von der Nofretete Susan Zarrabis und der Königin Teje von Sarah Brady... Ein großartiger, wunderbarer Abend zeitgenössischen Musiktheaters.
Peter Uehling, Berliner Zeitung
Minimal Music an der Komischen Oper: Philip Glass’ »Echnaton« feiert Premiere

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