© Iko Freese / drama-berlin.de
Modernes Schicksal, verpasste Liebe
Die Geburtsstunde des Musikdramas Jewgeni Onegin fällt auf einen Nachmittag im Mai 1877: Pjotr Iljitsch Tschaikowski sitzt in einem Restaurant, speist und grübelt. Er sucht nach einem Stoff für eine Oper, die es mit George Bizets Carmen aufnehmen kann. Dann hallt eine Empfehlung in seinem Kopf nach. Er läuft zum nächsten Buchladen und verschlingt in einer Nacht den Roman Jewgeni Onegin von Alexander Puschkin. Nicht einmal ein Jahr später schreibt Tschaikowski Operngeschichte mit einem Gegenentwurf zu Wagner und Verdi – still, psychologisch, modern. Seit dem gilt sein gleichnamiges Opern- und Zivilisationsdrama als erstes realistisches Werk über Einsamkeit, Sinnsuche und Liebeserfüllung im Spiel von Sehnsucht und Egoismus.
Eine Einführung von Simon Berger
Eine Einführung von Simon Berger
Drei Enden der Literatur
Drei mögliche Schlüsse, heißt es, kennt die Literatur: Hochzeit, Wahnsinn oder Mord. Ganz gleich, welche Themen und Geschichten verhandelt werden, letztlich mündet alles Erzählen in einer dieser drei Möglichkeiten, zum Ende zu kommen. »Hochzeit« kann die Aussöhnung der Widersprüche oder die plötzliche, komödienhafte Einsicht in die Nichtigkeit aller Verwicklungen sein, wie der heitere Himmel nach Wochen des schlechten Wetters. Mord ist der Abschluss in Gewalt und Tragödie, Wahnsinn hingegen die Flucht, der Zerfall der Person und ihrer Welt. Tschaikowskis Jewgeni Onegin kennt paradoxerweise alle drei Schlüsse.
Jewgeni Onegin
Lyrische Szenen in drei Akten [1879]
Libretto von Pjotr I. Tschaikowski und Konstantin S. Schilowski nach dem gleichnamigen Roman in Versen von Alexander S. Puschkin
Im Repertoire seit 31. Januar 2016
Koproduktion mit dem Opernhaus Zürich
Bildnis des Künstlers im Restaurant
An einem Nachmittag im Mai des Jahres 1877 saß ein großgewachsener bärtiger Mann Ende dreißig in einem Moskauer Restaurant und speiste zu Mittag. Wer ihn beobachtete, vermochte in dem Gesicht unter dem dunklen, zur Stirn hin leicht schütter werdenden Haar eine nervöse Gereiztheit oder Verdrossenheit wahrgenommen haben. Die rührte von einem Gespräch, das er gerade im Hause einer guten Freundin, der bekannten Sängerin Jelisaweta Andrejewna Lawrowskaja, geführt hatte. Genauer, die Verstimmung rührte von der Erinnerung an die unsinnigen Kommentare ihres Ehemannes.
Nun aber, am Ende der Mahlzeit, war aller Missmut ganz von ihm gewichen und in Zufriedenheit, vielleicht sogar selbstgewisse Überzeugung verkehrt. Es mag am Essen gelegen haben – Gaumenfreuden steigern ja das Wohlbefinden und lassen Abgründe des Lebens verschwinden –, sicher ist das allerdings nicht. Sicher ist, dass Pjotr Iljitsch Tschaikowski, einer der vielversprechendsten Komponisten Russlands, an jenem Tag in diesem Restaurant saß und über einen Vorschlag Jelisaweta Andrejewnas nachdachte.
Nun aber, am Ende der Mahlzeit, war aller Missmut ganz von ihm gewichen und in Zufriedenheit, vielleicht sogar selbstgewisse Überzeugung verkehrt. Es mag am Essen gelegen haben – Gaumenfreuden steigern ja das Wohlbefinden und lassen Abgründe des Lebens verschwinden –, sicher ist das allerdings nicht. Sicher ist, dass Pjotr Iljitsch Tschaikowski, einer der vielversprechendsten Komponisten Russlands, an jenem Tag in diesem Restaurant saß und über einen Vorschlag Jelisaweta Andrejewnas nachdachte.

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Eine neue Oper wollte er schreiben und suchte dafür nach einer besonderen Idee. Mit einiger Irritation dachte er an die Uraufführung, die er im vergangenen Jahr in Bayreuth miterlebt hatte: Richard Wagners Der Ring des Nibelungen, aufgeführt im eigens dafür errichteten Festspielhaus. Gerade mit dieser Mythenwelt konnte Tschaikowski nichts anfangen, die Dialoge schienen ihm schrecklich lang und lebensfern. Auch die Opern Giuseppe Verdis vermochten ihn nicht einzunehmen, »Leierkastenmusik« nannte er das. Was hatte er noch gesehen? Natürlich – Georges Bizets Carmen, ein einfaches, lebensnahes Meisterwerk, sehr nah an seinen eigenen Vorstellungen. Aber wer könnte ihm einen solchen Stoff finden? Zu seinem Leidwesen kannte er sich in der Literaturgeschichte nicht gut genug aus. Je länger er nun beim Essen über Jelisaweta Andrejewnas Vorschlag nachdachte, desto geeigneter erschien ihm ihre Idee. Eilig verließ er das Restaurant, lief von einer Buchhandlung zur nächsten und fand erst nach einer ganzen Weile, was er suchte. Die folgende Nacht verbrachte er mit der begeisterten Lektüre von Alexandr Sergejewitsch Puschkins Roman in Versen Jewgeni Onegin. Angetan von der Fülle poetischer Möglichkeiten, die ihm Puschkins Dichtung bot, machte er sich sogleich an die Arbeit. Und schuf aus dem Personal der Puschkinschen Dichtung ein intimes Werk, das die fragilen emotionalen Beziehungen einfacher junger Leute, ihre heiteren Illusionen und Leichtsinnigkeiten der Jugend in den größeren Zusammenhang einer ungekannten Zukunft stellt. Aus den einfachen, fast spielerischen Begegnungen von Teenagern in der Weite der russischen Provinz werden Lebensläufe großstädtischer Leute, die von Schmerz und leidvollen Erinnerungen geprägt sind und an das jugendliche Glück nur nostalgisch sehnend anknüpfen können. Eine veritable Coming-of-age-Geschichte, noch bevor dieser Topos so benannt wird.
Byrons Dandy in der russischen Literatur
Der Krieg, sagt Heraklit, sei der Vater aller Dinge. In Russland brachte er Widerstand gegen die Napoleonischen Heere, eine eminente kulturelle Wendung und dem 1799 geborenen Puschkin den Durchbruch als national-russischer Literat. Der 26-jährige Dichter hob mit seinem ab 1825 in russischer Sprache publizierten Jewgeni Onegin das Russische, gegen das neuerdings unbeliebte Französisch, in den Rang einer Literatursprache. Und schuf den ersten modern-realistischen Roman Russlands, angefüllt mit Ironie, Spott und Parodie auf Literatur und Gesellschaft seiner Zeit. Jewgeni Onegin auf einer Reise zwischen Stadt und Land, ein Protagonist der russischen Oberschicht, verspielt all sein Glück und fleht am Ende vergeblich um Tatjanas Liebe. Puschkin, glühender Verehrer des britischen Romanciers Lord Georges Byron, formte den Helden seiner Erzählungen den byronic heroes nach. Diese rastlosen, genusssüchtigen Gestalten, jugendlich und schon schwer vom Leben enttäuscht, bevölkern Byrons Œuvre und wurden, von Puschkin bis Baudelaire und Wilde, zu paradigmatischen Figuren des 19. Jahrhunderts. Als einer der ersten Künstler entwarf Byron ein öffentliches Bild seiner eigenen Person, reüssierte so beim Publikum, hatte Verehrerinnen unter den Frauen und beeindruckte nicht zuletzt damit auch Puschkin. Dessen Schöpfung Jewgeni Onegin verbindet auf einzigartige Weise den russlandspezifischen Inhalt mit radikaler Zeitgenossenschaft, bis in die Gestaltung der Figuren hinein. Onegin war ein Bestseller. Ohne Puschkin und Onegin hätte Lermontow nicht Ein Held unserer Zeit, Gontscharow nicht Oblomow, Gogol nicht den Revisor geschrieben, und die großen Realisten, Dostojewski und Tolstoi, hätten ihrer Grundlage entbehrt …

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Eine Krise in Moskau
Dass es Tschaikowski gelang, die Arbeit am Onegin fortzusetzen, war ein kleines Wunder. Es war Januar 1878 geworden, und er machte auf Erholungsreise Station in San Remo. Die Reise durch Frankreich, Italien und die Schweiz, sollte ihn wieder zu sich bringen, wie er seinem Bruder Modest Iljitsch schrieb. Der zehn Jahre jüngere Bruder war in den vergangenen Monaten einer seiner engsten Vertrauten geworden und sollte nach dem Tod des Komponisten die erste Biografie über ihn veröffentlichen. Über das Jahr 1877 schrieb er darin, Tschaikowski habe ein »wahnwitziges Unternehmen« begonnen. Damit meinte er weder Jewgeni Onegin noch die parallel entstandene 4. Sinfonie, sondern die Eheschließung mit Antonina Iwanowna Miljukowa im Juli 1877. Trotz oder eher wegen seiner homosexuellen Neigung hatte Tschaikowski beschlossen zu heiraten: »Wen auch immer.«
Welch ein Desaster, wenn er jetzt daran zurückdachte. Er liebte und begehrte seine Frau nicht, war geradezu angewidert und fand sich in der paradoxen Situation einer selbstgewählten Gefangenschaft. Seinen Brüdern und Freunden schrieb er von seiner Bedrängnis, seiner Schuld gegenüber ihren Liebesbeteuerungen, seiner Selbsterniedrigung, seiner Arbeitsunfähigkeit und von den regelmäßig scheiternden Versuchen, seine Frau doch noch lieb zu gewinnen. Es gehört wohl in den Bereich der Legende, dass er versucht habe, sich das Leben zu nehmen. Wohl aber war er im Oktober 1877 in einem Petersburger Hotel zusammengebrochen.
Welch ein Desaster, wenn er jetzt daran zurückdachte. Er liebte und begehrte seine Frau nicht, war geradezu angewidert und fand sich in der paradoxen Situation einer selbstgewählten Gefangenschaft. Seinen Brüdern und Freunden schrieb er von seiner Bedrängnis, seiner Schuld gegenüber ihren Liebesbeteuerungen, seiner Selbsterniedrigung, seiner Arbeitsunfähigkeit und von den regelmäßig scheiternden Versuchen, seine Frau doch noch lieb zu gewinnen. Es gehört wohl in den Bereich der Legende, dass er versucht habe, sich das Leben zu nehmen. Wohl aber war er im Oktober 1877 in einem Petersburger Hotel zusammengebrochen.
»Was sind schon Effekte!«
Bereits im selben Monat hatte er den 1. Akt von Jewgeni Onegin beendet, und in San Remo instrumentierte er schon die Arie des Gremin im dritten Teil, jenen monolithischen Einwurf des Fürsten in Sankt Petersburg, der nun Tatjanas Gatte ist und den größtmöglichen Kontrast zum ziellosen Leben Onegins darstellt. An dieser Stelle hatte Tschaikowski nicht nur gegenüber der Vorlage einen Namen für die Figur erfunden, sondern überhaupt deren Arientext selbst entwickelt. Der erzählerische Effekt ist erstaunlich: Nach unstetem Leben auf dem Land trifft Onegin in der kultivierten Strenge der zivilisierten städtischen Welt auf ein Lebensprinzip, welches sein eigenes Scheitern buchstäblich aus- und entgegenspricht.

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Nun jedoch, am 2. Januar, hatte Tschaikowski einen ärgerlichen Brief seines Schülers Sergej Tanejew vor sich und arbeitete an einer Antwort. Die Musik sei zwar wunderbar, eine Nummer schöner als die andere, aber leider habe das Stück zu wenig bühnenwirksame Handlung, kritisierte Tanejew. Tschaikowskis Antwort war ebenso eindeutig wie entschieden:
Ich arbeitete mit unbeschreiblicher Hingabe, Begeisterung … Ich pfeife auf Effekte. Und was sind denn schon Effekte! Wenn Sie sie zum Beispiel in irgendeiner »Aida« finden, so versichere ich Sie, dass ich um nichts in der Welt eine Oper mit einer solchen Handlung schreiben könnte, weil ich Menschen brauche, und keine Puppen; ich nehme mich gern einer jeden Oper an, in der Wesen, wie ich, ein Gefühl erleben, das auch von mir erlebt wurde und mir verständlich ist.
Erinnerung an »Kotik«
Waren es tatsächlich seine Hände? Der Mann, den Tschaikowski liebte, hieß Iosif Iosifowitsch Kotek, er studierte Violine, war Tschaikowskis Schüler am Konservatorium und hatte einen etwas missgestalteten Finger. Von der eigenen, fast obsessiven Begeisterung für schöne Hände berichtete Tschaikowski selbst mehrfach. Nach sechs Jahren gelegentlicher Verliebtheit hatte er im Januar des »Krisenjahres« 1877 ihm, den er »Kotik«, Katerchen, nannte, endlich seine Liebe gestanden. Auf große Freude folgte schnell bittere Enttäuschung. Tief verletzt und eifersüchtig schrieb Tschaikowski seinem Bruder von den zahlreichen Affären, die der junge Mann mit einigen Frauen hatte. Grund der Trennung sei aber nicht diese Verletzung, sondern eben der unerträgliche, verstümmelte Finger Koteks gewesen. Zuletzt hatten sie sich im vergangenen Dezember in Wien gesehen, und Tschaikowski vermisste Kotek.
Ein »Zivilisationsdrama«
Die Erfahrungen mit Kotek oder der briefeschreibenden Miljukowa haben die Arbeit am Onegin begleitet. Wesentlich für den Erfolg und die Kraft des Werkes ist aber der Realismus in der Gestaltung der Charaktere im Puschkinschen Werk, an ihn konnte Tschaikowski musikalisch anknüpfen. Vielfach wurde, auch in den Jahrzehnten nach der Uraufführung, seine »Bühnenfassung« als mangelhafte Adaption des Versromans bezeichnet. Er habe den gesellschaftskritischen Geist des Onegin nicht aufgenommen und Puschkins Dichtung ihrer ironisch-satirischen Elemente beraubt. Offen wurde diese Debatte zwischen Tschaikowski und seinen Kritikern nicht geführt, viel eher häuften alle Beteiligten Missverständnisse auf. Im Nachhinein erscheint die Frage, ob Tschaikowski Puschkins Ironie und Kritik verstanden hatte, uninteressant. Er entwickelte keine Theoriegebäude und abstrakte Gedankenwelten, sondern als radikaler Subjektivist suchte er nach einer Inspiration für Emotionen, die Musik werden sollten.
Nach jenem denkwürdigen Nachmittag im Mai 1877 war der Komponist zu seinem Bekannten Konstantin Stepanowitsch Schilowski geeilt, der ihm ein Szenario erarbeitete. Er lieferte lose verbundene Skizzen, Stationen, Tableaus. Es fehlte die Linearität der Puschkinschen Vorlage, bewusst aufgegeben zugunsten eines mosaikartigen Theatergemäldes. Die »Lyrischen Szenen«, so die eigenwillige und neuartige Stückbezeichnung, präsentieren ein neues Musiktheater, in dem die Motivationen des Erzählens zugleich ihr Gegenstand sind: Gefühle. Diese waren für Puschkin vielleicht für den erzählerischen Effekt wichtig oder dankbares Opfer seiner Ironie – nicht aber Thema seines Werkes. Tschaikowski erarbeitete ein regelrechtes »Zivilisationsdrama«, ohne dies theoretisch auszudeklinieren: Die christliche Moral, der Gegensatz von Stadt und Land, die Typenhaftigkeit der Protagonisten als Ausdruck einer Gesellschaftsordnung, die gesetzmäßige Form der Paarbildung, der Spott über das atavistische Duell – all dies ist letztlich nur Hintergrund dieser lyrischen Szenen. Einzig Gremins Arie im letzten Akt thematisiert explizit das gesellschaftliche Leben der Figuren als Motiv ihrer Entscheidungen. Aber auch hier überwiegt die dramaturgische Funktion, Onegin einen Zerrspiegel seines Lebensstils vorzuhalten.
Nach jenem denkwürdigen Nachmittag im Mai 1877 war der Komponist zu seinem Bekannten Konstantin Stepanowitsch Schilowski geeilt, der ihm ein Szenario erarbeitete. Er lieferte lose verbundene Skizzen, Stationen, Tableaus. Es fehlte die Linearität der Puschkinschen Vorlage, bewusst aufgegeben zugunsten eines mosaikartigen Theatergemäldes. Die »Lyrischen Szenen«, so die eigenwillige und neuartige Stückbezeichnung, präsentieren ein neues Musiktheater, in dem die Motivationen des Erzählens zugleich ihr Gegenstand sind: Gefühle. Diese waren für Puschkin vielleicht für den erzählerischen Effekt wichtig oder dankbares Opfer seiner Ironie – nicht aber Thema seines Werkes. Tschaikowski erarbeitete ein regelrechtes »Zivilisationsdrama«, ohne dies theoretisch auszudeklinieren: Die christliche Moral, der Gegensatz von Stadt und Land, die Typenhaftigkeit der Protagonisten als Ausdruck einer Gesellschaftsordnung, die gesetzmäßige Form der Paarbildung, der Spott über das atavistische Duell – all dies ist letztlich nur Hintergrund dieser lyrischen Szenen. Einzig Gremins Arie im letzten Akt thematisiert explizit das gesellschaftliche Leben der Figuren als Motiv ihrer Entscheidungen. Aber auch hier überwiegt die dramaturgische Funktion, Onegin einen Zerrspiegel seines Lebensstils vorzuhalten.

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Beispielhaft für Tschaikowskis Umgang mit Puschkins Dichtung ist die »Verpflanzung« der ersten Strophe des Romans, in der Onegin zu sich selbst sprechend vorgestellt wird, in den Moment der ersten Konversation zwischen Tatjana und Onegin. Auf die Unmöglichkeit, moderne Figuren auf dem Theater – anders als im Film – in der »Ego-Perspektive« zu gestalten, reagiert der Librettist, indem er die Charakterisierung der Figuren direkt in Narration und Tableau einbettet. Im Text Puschkins umreißt Onegin in egoistischer Verachtung des Leidens der anderen zugleich den Horizont seines Lebens:
Indem mein Onkel, von höchster Redlichkeit,
sehr ernsthaft erkrankte,
erzwang er sich Ehrerbietung,
nichts Besseres fiel ihm jemals ein.
Sein Beispiel möge anderen eine Lehre sein. […]
Doch mein Gott, welche Langeweile
mit dem Kranken Tag und Nacht zu sitzen
und sich keinen Schritt entfernen zu können!
sehr ernsthaft erkrankte,
erzwang er sich Ehrerbietung,
nichts Besseres fiel ihm jemals ein.
Sein Beispiel möge anderen eine Lehre sein. […]
Doch mein Gott, welche Langeweile
mit dem Kranken Tag und Nacht zu sitzen
und sich keinen Schritt entfernen zu können!
Zeitgenossen auf der Opernbühne
Musikalisch gestaltete Tschaikowski die Partien der Figuren in je eigenem melodisch-harmonischem Material, mithin mit Gesangsweisen als Ausdruck individueller Psychologie. Im Verlauf der Oper taucht dieses Material immer wieder auf, und wird, je nach Situation, abgewandelt und erweitert. Am bekanntesten in der Partie der Tatjana, in der das »Sehnsuchtsmotiv« der Einleitung stets variiert erklingt. In ihrem »individualisierten Sprechen« werden die Figuren als radikal voneinander verschieden, getrennt, porträtiert. Es ist der Abgrund, die räumliche und emotionale Distanz zwischen den Protagonisten, die Antrieb – als Sehnsucht bei Tatjana, als Ehrbegriff bei Lenski – und Hindernis ihrer Lebensläufe ist. Deutlich unterstrich dies Tschaikowski, indem er fast jeder Hauptfigur einen eigenen Akt zuordnet, mit jeweils eigenem Ende. Im Schlussakt schließlich geht er noch einen Schritt weiter, indem er Onegin den Text Tatjanas, aus der Briefszene, und ihr musikalisches Material zuordnet.
Mit seiner Fokussierung auf das Leben »echter Menschen« schuf Tschaikowski, ohne sich dessen ganz klar zu sein, eines der ersten realistischen Werke der Operngeschichte. Puschkins Vorlage bot ihm markante Figuren, die aufgrund ihrer inneren Anlage in plausible und zugleich drängende Konflikte geraten. Ungeahnt gebiert ein poetischer Sommertag in der Natur folgenschwere Lebensentscheidungen, die schließlich in Katastrophen münden. Und all dies ohne metaphysische oder sagenhafte Zutaten. Gerade dadurch wird jede Umsetzung für die Bühne zu einer besonderen Herausforderung, denn es gilt, den leichten Geist des Nebenbei-Geschehens einzufangen.
Als im März 1878 Tschaikowskis Freund Nikolai Rubinstein im Moskauer Maly-Theater den Taktstock senkte, hatte das Publikum eine moderne »Tragödie« gesehen. Aus Puschkins Figuren waren erneut Zeitgenossen geworden, diesmal auf der Opernbühne. Figuren, die in einer (fast) säkularen Welt nach Sinn und Liebeserfüllung trachten, doch stets Sehnsucht und Egoismus erneuern.
Mit seiner Fokussierung auf das Leben »echter Menschen« schuf Tschaikowski, ohne sich dessen ganz klar zu sein, eines der ersten realistischen Werke der Operngeschichte. Puschkins Vorlage bot ihm markante Figuren, die aufgrund ihrer inneren Anlage in plausible und zugleich drängende Konflikte geraten. Ungeahnt gebiert ein poetischer Sommertag in der Natur folgenschwere Lebensentscheidungen, die schließlich in Katastrophen münden. Und all dies ohne metaphysische oder sagenhafte Zutaten. Gerade dadurch wird jede Umsetzung für die Bühne zu einer besonderen Herausforderung, denn es gilt, den leichten Geist des Nebenbei-Geschehens einzufangen.
Als im März 1878 Tschaikowskis Freund Nikolai Rubinstein im Moskauer Maly-Theater den Taktstock senkte, hatte das Publikum eine moderne »Tragödie« gesehen. Aus Puschkins Figuren waren erneut Zeitgenossen geworden, diesmal auf der Opernbühne. Figuren, die in einer (fast) säkularen Welt nach Sinn und Liebeserfüllung trachten, doch stets Sehnsucht und Egoismus erneuern.
Hochzeit, Wahnsinn, Mord – Fallhöhen modernen Lebens
Jede Geschichte der drei Figuren – Tatjana, Lenski, Onegin – endet in einem der eingangs erwähnten Schlüsse. Lenski wird vom Freund ermordet und begleitet Onegin als ewige Schuld bis nach Sankt Petersburg. Die »Tragik« der »Lyrischen Szenen« resultiert aus der Ineinanderblendung zweier Schlüsse – was für Tatjana Hochzeit mit Gremin ist, und damit eine Versöhnung mit der bestehenden Gesellschaftsordnung, nimmt sich in Onegins Perspektive als Wahnsinn des schuldbelasteten Lebens in Freiheit bis hin zum Tode – dem eigenen und dem der anderen, aus. Der dramaturgische Kniff der Wiederbegegnung – eine Standardsituation auf dem Theater – eröffnet der Titelfigur schlagartig den Blick auf das eigene Leben. Die Rastlosigkeit des Dandys, geboren aus Ennui und Lebenshunger, bricht an ihrer eigenen Möglichkeitsbedingung: Dem Tod. Onegins »elendes Schicksal«, das er zuletzt beklagt, ist tatsächlich »elend«, als es gar kein Schicksal im Wortsinne ist. Außer sich selbst, war Onegin keiner Macht unterworfen. Seine Selbsterkenntnis ist in erster Linie der Rückblick auf das unverrückbare eigene Leben als Serie zufälliger, teils bewusster, teils unbedachter Entscheidungen. Der Lebensstil mag Ausdruck eines Bewusstseins um die Fülle an Möglichkeiten oder auch Protest gegen Konvention und Verbindlichkeit gewesen sein, die Konsequenzen muss Onegin selbst ertragen. Seine anrührende Kraft und Aktualität bezieht das Werk aus dieser exemplarischen Konfrontation der Titelfigur mit dem fehlenden Schicksal, mit der angsterregenden elementaren Wahl angesichts der Kürze des Daseins: Wie willst du mit den anderen gelebt haben?
#KOBOnegin
19. Dezember 2023
Auf der Suche nach dem verlorenen Glück
Die Oper Jewgeni Onegin ist das Porträt eines skrupellosen Antihelden, versunken in seiner fremdbestimmten Ichbezogenheit, verwirrt durch Unzufriedenheit und Orientierungslosigkeit. Was qualifiziert dann Onegin überhaupt zum Titelhelden? Was ist über ihn so außerordentlich erzählenswert, wenn Lebensüberdruss, Lethargie und Langeweile seine wohlgepflegten Charaktereigenschaften sind?
#KOBOnegin
Oper
Einführung
18. Dezember 2023
Alles ist am Brodeln
Generalmusikdirektor Henrik Nánási über Intimität und Pathos in Tschaikowskis Jewgeni Onegin
#KOBOnegin
Interview
11. Dezember 2023
Der Kaiser erklärt ... den Rasen
Wie man es hinbekommt, dass der Rasen auf der Bühne von Barrie Koskys Jewegeni Onegin so natürlich aussieht, warum dieser Rasen feuerfest sein muss und ob ihm Regen etwas ausmacht – unser technischer Direktor Daniel Kaiser erklärt: den Rasen!
KOBOnegin
Der Kaiser erklärt
2. Februar 2016
Eine Pointe von Tschaikowskys »Lyrischen Szenen« liegt in der Verweigerung opernhafter Äußerlichkeit. Barrie Kosky ist klug genug, das zu erkennen. Alle Regiemätzchen und virtuosen Knalleffekte hat sich der sonst so bilderstürmerische Regisseur jetzt in dieser atmosphärischen Inszenierung versagt. Umso stärker geht sie unter die Haut. Kosky verblüfft mit diesem Onegin als Meister einer einfühlsamen und brillant psychologisierenden Personenregie, wie wir sie etwa aus den großen Zeiten von Peter Stein an der Berliner Schaubühne kennen.
Unerwiderte Gefühle
Julia Spinola, Deutschlandfunk
Julia Spinola, Deutschlandfunk
#KOBOnegin
2. Februar 2016
Kosky zeigt, was er auch kann: behutsam führen, das Innerste der Figuren ins Äußere der Protagonisten kehren...
Im Dickicht der Gefühle
Julia Kaiser, Berliner Morgenpost
Julia Kaiser, Berliner Morgenpost
#KOBOnegin
2. Februar 2016
Koskys Regie ist ein Geniestück ohne Zeigefinger, ohne Besserwisserei, ohne Anklage. Die Wiedergeburt des psychologischen Realismus ohne Desavouierung der Figuren ... Es ist ein ganz selten gewordener poetischer Realismus, mit dem Barrie Kosky und seine fantastische Bühnenbildnerin Rebecca Ringst hier ihren Tschaikowsky aus dem Geiste eines Tschechow oder Tolstoi zu lesen verstehen. … Diese Bildsetzung ist von geradezu filmischer Direktheit (und kommt doch glücklicherweise ganz ohne überflüssige Videosequenzen aus), sie öffnet indes, über die sensibel die Tageszeiten nachzeichnenden Lichtstimmungen immer wieder weite Sehnsuchtsräume. In ihnen kommen kleine Gesten der Figuren endlich wieder zu großer Wirkung – Gesten und Regungen der Solisten wie jenen des Chores, den Kosky in meisterlicher Individualisierung zu aktivieren versteht.
Demut schlägt Dekonstruktion - »Ein Regie-Geniestück: Hausherr Barrie Kosky erfindet den poetischen Realismus neu«
Peter Krause, Concerti.de
Peter Krause, Concerti.de
#KOBOnegin
1. Februar 2016
Dieser Onegin wird bleiben. Es ist eine Referenzregie.
400 Quadratmeter Kunstrasen für eine Oper ... Regisseur Barrie Kosky triumphiert nun damit in Berlin
Elmar Krekeler, Die Welt
Elmar Krekeler, Die Welt
#KOBOnegin
1. Februar 2016
… wie genau Kosky in die Abgründe aller Beteiligten schaut, ist bewundernswert.
Feinnerviges Psychogramm junger Leute
Uwe Friedrich, BR Klassik
Uwe Friedrich, BR Klassik
#KOBOnegin