Auf der Suche nach dem ver­lo­re­nen Glück

Porträt eines Schick­sal­lo­sen – von Savina Kationi
Ein paar Jahre nach ihrer ersten Begegnung und Onegins kalter Reaktion auf Tatjanas Liebesbrief verliebt er sich in sie, obwohl sie schon verheiratet ist. Unter welchen Bedingungen ist so eine schlichte, fast banale, alltägliche Geschichte als Opernsujet überhaupt tauglich? Gegen jede Opernroutine und -praxis seiner Zeit schuf Tschaikowski ein intimes, häusliches Drama, ohne Prinzen und historische Persönlichkeiten, ohne prachtvolle Bühneneffekte und grandiose Besetzung der Grand Opéra. Wie er an seinen Bruder Modest 1877 schrieb: »Poesiereichtum, Lebenswahrheit und Einfachheit der Vorgänge« charakterisieren seine »Lyrischen Szenen«. In der Tat gibt es, bedenkt man den Schluss dieser Oper, keine Erlösung durch Tod, keine Katharsis, keine große Ensembleszene oder andere Standardszenen der Operntradition. Der Titelheld Onegin bleibt einfach allein auf der Bühne und beklagt sein Schicksal und seine Zukunft.
… ist das Wichtigste nicht Ruhm, nicht Glanz, nicht das, wovon ich geträumt hatte, sondern die Fähigkeit zu leiden. Trage dein Kreuz und glaube.
Nina in »Die Möwe« von Anton Tschechow
Aber was qualifiziert Onegin überhaupt zum Titelhelden? Was ist über ihn so außerordentlich erzählenswert? Lebensüberdruss, Lethargie und Langeweile sind die Eigenschaften des unbefriedigten Kosmopoliten, schon bei seinem ersten Auftritt. Ein skrupelloser Antiheld, versunken in seiner fremdbestimmten Ichbezogenheit, verwirrt durch Unzufriedenheit und Orientierungslosigkeit. Selbst kreiert er nichts, sein Handeln ist Reaktion auf fremdes Handeln. Obwohl das Scheitern der Erwartungen als zentrales Thema dieser Oper diskutiert wird, bleibt der Großstadtdandy der Einzige, der überhaupt keine Erwartungen an andere Menschen hat und die Autarkie bevorzugt. Dies wird durch eine gewisse Urbanität der Musik, die ihn begleitet, verdeutlicht.

Durch eine Reihenfolge von zufälligen, jedoch schicksalhaften Ereignissen ist Onegin mit zwei Chancen, seinen Lebenslauf zu ändern, konfrontiert: das erste Mal durch Liebe, das zweite durch Freundschaft. Bewusst vernichtet er jegliche Gefühle, die seinen Status quo oder Lebensstil bedrohen könnten, – und akzeptiert die Konsequenzen. Was aber als Mangel an Gefühl und Wertebewusstsein erscheint, ist eigentlich Zweifel an geltenden Konventionen – ein Charakteristikum des gebildeten Dandys. In seinem Versuch, die Mittelmäßigkeit oder das unnötige Leiden zu vermeiden, entfremdet er sich vom Umgang mit Menschen und dem lebendigen Erleben. Beide Male lehnt er solch natürliche Vorgänge ab und stirbt dabei allmählich.

Als er nach Jahren ruhelosen Umherirrens schließlich ins Licht kommt, muss er die gewaltige Auseinandersetzung mit sich selbst überleben: Der heimatlose Flüchtling erwacht aus seiner Passivität erst vor der Katastrophe. Nur um wahrzunehmen, dass er anderer Menschen bedarf und sein moralischer Tod sonst unvermeidlich ist. Egal wie ehrlich seine Motive sind oder aussehen, kann er sein bisheriges Verhalten nicht widerrufen:

Im Duell habe ich den Freund getötet, bin ohne Ziel, ohne Tätigkeit 26 Jahre alt geworden, geplagt von untätiger Muße, ohne Stelle, ohne Frau, ohne Arbeit, konnte ich mich mit nichts beschäftigen!
Szene aus Jewgeni Onegin
Onegins Tragik ist genau damit leben zu müssen, mit diesen Charakterschwächen und den daraus resultierenden Entscheidungen, deren Preis er spät erfährt; die ewige Qual: »Zum Fassen nahe war das Glück, so nah, so nah!«. Daran gebunden ist die herzzerreißende Aussichtslosigkeit der Frage »Was wäre, wenn …?« Der tragische Held ist in diesem Sinne nicht derjenige, der stirbt, sondern einer, der mit seinem unerträglich problematischen und alternativlosen Fatum, seinem psychologischen Tod, weiterleben muss. Weder Puschkin noch Tschaikowski können ihm eine Erlösung gewähren.

Tschaikowskis Fähigkeit, innere Gefühle und seelische Vorgänge musikalisch zu projizieren, bleibt einzigartig. Ebbe und Flut der Musik folgen dem Aufstieg und Fall des Dramas. Tschaikowski stützte sich auf ein bekanntes Meisterwerk. Den nahezu heiligen russischen Text hat er derart umgearbeitet, dass man von einem völlig neuen Kunstwerk sprechen muss. Das erste Kapitel des Romans sowie die detaillierte Charakterisierung Onegins übergeht Tschaikowski und konzentriert sich auf sein eigenes Interesse. Während Puschkins Onegin eine Art Caspar David Friedrichschen Wanderer darstellt, bekommt Tschaikowskis Onegin – eine Figur, die der Komponist überhaupt nicht mochte – eine eher Dostojewskische Farbe. Obschon der Komponist Tatjana als Hauptfigur in den Vordergrund rückt – entweder aus Identifikation mit der Figur oder aus purer Sympathie für die romantische und idealisierte Kreation Puschkins –, schildert Tschaikowski denoch minutiös den psychischen Entwicklungsprozess Onegins sowohl musikalisch, durch ein feines Netz von Leitthemen und -motiven, als auch dramaturgisch. Er begleitet und dramatisiert den Übergang Onegins von der Arroganz des »überflüssigen Menschen« – ein beliebter Topos der Literatur des frühen 19. Jahrhunderts – zur Hoffnungslosigkeit einer selbst geschaffenen Sackgasse.

Mehr dazu

2. Februar 2016
Eine Pointe von Tschaikowskys »Lyrischen Szenen« liegt in der Verweigerung opernhafter Äußerlichkeit. Barrie Kosky ist klug genug, das zu erkennen. Alle Regiemätzchen und virtuosen Knalleffekte hat sich der sonst so bilderstürmerische Regisseur jetzt in dieser atmosphärischen Inszenierung versagt. Umso stärker geht sie unter die Haut. Kosky verblüfft mit diesem Onegin als Meister einer einfühlsamen und brillant psychologisierenden Personenregie, wie wir sie etwa aus den großen Zeiten von Peter Stein an der Berliner Schaubühne kennen.
Unerwiderte Gefühle
Julia Spinola, Deutschlandfunk
#KOBOnegin
2. Februar 2016
Kosky zeigt, was er auch kann: behutsam führen, das Innerste der Figuren ins Äußere der Protagonisten kehren...
Im Dickicht der Gefühle
Julia Kaiser, Berliner Morgenpost
#KOBOnegin
2. Februar 2016
Koskys Regie ist ein Geniestück ohne Zeigefinger, ohne Besserwisserei, ohne Anklage. Die Wiedergeburt des psychologischen Realismus ohne Desavouierung der Figuren ... Es ist ein ganz selten gewordener poetischer Realismus, mit dem Barrie Kosky und seine fantastische Bühnenbildnerin Rebecca Ringst hier ihren Tschaikowsky aus dem Geiste eines Tschechow oder Tolstoi zu lesen verstehen. … Diese Bildsetzung ist von geradezu filmischer Direktheit (und kommt doch glücklicherweise ganz ohne überflüssige Videosequenzen aus), sie öffnet indes, über die sensibel die Tageszeiten nachzeichnenden Lichtstimmungen immer wieder weite Sehnsuchtsräume. In ihnen kommen kleine Gesten der Figuren endlich wieder zu großer Wirkung – Gesten und Regungen der Solisten wie jenen des Chores, den Kosky in meisterlicher Individualisierung zu aktivieren versteht.
Demut schlägt Dekonstruktion - »Ein Regie-Geniestück: Hausherr Barrie Kosky erfindet den poetischen Realismus neu«
Peter Krause, Concerti.de
#KOBOnegin
1. Februar 2016
Dieser Onegin wird bleiben. Es ist eine Referenzregie.
400 Quadratmeter Kunstrasen für eine Oper ... Regisseur Barrie Kosky triumphiert nun damit in Berlin
Elmar Krekeler, Die Welt
#KOBOnegin
1. Februar 2016
… wie genau Kosky in die Abgründe aller Beteiligten schaut, ist bewundernswert.
Feinnerviges Psychogramm junger Leute
Uwe Friedrich, BR Klassik
#KOBOnegin