Die Sehn­sucht verlieren, um weiter zu leben

Barrie Kosky im Gespräch über Landschaften, Marmelade und rätselhafte Beziehungen
Jewgeni Onegin – eine Oper, in der eigentlich nichts viel passiert …?

Barrie Kosky Das Stück fängt mit dem Gespräch zweier Frauen an, die Marmelade einkochen und über die Vergangenheit reden. Ich halte mich nie sklavisch an Regieanweisungen in der Partitur, aber diese hier liebe ich so sehr, dass ich das auch unbedingt umsetzen wollte. Es bringt die besondere Banalität der Ereignisse dieser »Lyrischen Szenen« in gewisser Weise auf den Punkt. Zugleich etabliert dieser Einstieg die fragile Atmosphäre des Werks, die – szenisch wie musikalisch – aus einer Vielzahl kleiner, scheinbar nebensächlicher Dinge rührt, die zu einem großen Gewebe verbunden werden. Ich mag Opern mit sehr einfachen Geschichten und unglaublich facettenreichen Themen und Emotionen – ganz genau wie im griechischen Theater. Man kann die Geschichten aller griechischen Stücke in ein paar Sätzen zusammenfassen. Viel komplexer sind die darunterliegenden Themen. Jewgeni Onegin ist ein Stück über vier junge Menschen. Es geht um Zeit und Erinnerung, um Liebe, Einsamkeit, Melancholie. Aber für mich ist eine Frage besonders wichtig: »Was wäre passiert, wenn …?« Es geht also um Resignation und Bedauern. Ich kenne kein anderes Stück, in dem die Figuren so häufig darüber singen, wie etwas war. Im 1. Akt singen alle über die Vergangenheit. Das führt unweigerlich zu der Frage nach dem Zustand der Gegenwart …

In welchem Verhältnis stehen der Roman Puschkins und Tschaikowskis Werk?

Barrie Kosky Man stelle sich die Uraufführung in Moskau vor! Das Publikum kannte den Text Puschkins sehr gut. Jede Szene muss eine riesige Überraschung gewesen sein, sicher stellte sich auch Enttäuschung ein, weil Erwartungen nicht erfüllt wurden. Tschaikowski hat eine ganz persönliche Meditation über Puschkins Themen geschaffen. Er folgt Puschkins Versdichtung in Reimen nicht eins zu eins, sondern schafft in sehr freier Form etwas ganz Neues daraus. Das Stück ist ein Lehrstück für Komponisten, denn man kann sehr gut studieren, wie man aus einer literarischen Vorlage eine Oper formt. In den vergangenen fünfzig Jahren haben zu viele Komponisten einfach Musik zu Literatur geschrieben. Aber derart entsteht kein Musiktheater, keine Oper, höchstens gesungene Literatur. Tschaikowski hatte seinerseits ein grandioses Gespür für notwendige Umformungen, um lebendiges Musiktheater überhaupt möglich zu machen. Entstanden ist ein völlig eigenständiges Werk. Puschkins und Tschaikowskis Jewgeni Onegin liegen Seite an Seite, nicht übereinander.

Dabei steht bei Tschaikowski, anders als bei Puschkin, die Liebe im Zentrum …

Barrie Kosky Das Stück ist als eine Beziehungsoper zu verstehen. Oft sieht man Inszenierungen aus der Perspektive Tatjanas, aber es heißt nun mal Jewgeni Onegin. Es ist eine Zweiergeschichte, es geht um beide Figuren in gleichem Maße. Paradoxerweise singen die beiden aber erst in der allerletzten Szene der Oper zusammen. Da heißt es abermals »Was wäre wenn …?«. Die Pointe ist, dass in diesem einzigen, wirklichen Duett des Werkes keine große Liebesbegegnung stattfindet. Sondern Tatjana formuliert, im Kampf mit sich selbst, ihre Ablehnung.

Tatjanas Liebe und Onegins Liebe verlaufen sehr unterschiedlich. The timing is all wrong – sie verpassen sich die ganze Zeit. Das Mädchen Tatjana hat sich all ihre Ideen, Emotionen und Fantasien über Liebe aus Büchern angelesen. Ihr Onegin entstammt gewissermaßen ihrer Traumwelt und ist für mich eher ein Frankenstein-Liebesmonster, erschaffen aus unterschiedlichen romantischen Liebesgeschichten. Für sie aber ist er nichts weniger als »die Liebe ihres Lebens«. Dagegen kann die Realität nur verlieren. Tschaikowski erzählt das ganz grandios: Nach Onegins Zurückweisung ist Tatjana stumm, als ob etwas in ihr zerbrochen ist. Das Stück scheint sich zu drehen, als würden wir alles plötzlich und für einen kurzen Moment aus Onegins Perspektive sehen. Die letzte Szene der Oper zieht die Parallele dazu, eine wunderbare Spiegelung zwischen ihrer Besessenheit in der Briefszene und seiner Besessenheit im 3. Akt nach dem Ball. Am Ende sehen wir Tatjana als erwachsene Frau. Wir erfahren, was es bedeutet, erwachsen zu werden. Man muss Schmerz erleben, die Sehnsucht verlieren, um weiterzuleben. Dramaturgisch sehr geschickt werden dazu die kleinen Momente des Lebens, die für dieses Werk konstitutiv sind, in Beziehung zueinander gesetzt. Es ist große Musik, die von Kleinigkeiten ausgelöst wird: ein Blick, ein Wort, ein Brief. Diese Kleinigkeiten aber führen dann, ähnlich wie in den Stücken von Anton Tschechow, zur Katastrophe.
Szene aus Jewgeni Onegin
Man liest oft, Tschaikowskis Homosexualität habe eine große Rolle bei der Entstehung des Werkes gespielt …

Barrie Kosky Im Rückblick ist so etwas schwer zu beurteilen. Immer wieder wird die Geschichte von Antonina Miljukowa erzählt, die Tschaikowski Liebesbriefe schrieb, worauf dieser sie heiratete. Ich glaube aber, dass Tschaikowskis eigene Liebesbriefe an den Geiger Iosif Kotek ein viel wichtigerer Schlüssel sind. Tschaikowski fand sich selbst in seiner Tatjana wieder. Ich behaupte nicht, dass Onegin eine schwule Geschichte erzählt. Es ist eher wie bei Tennessee Williams: Auch Williams identifiziert sich mit seinen Frauenfiguren. Blanche DuBois in Endstation Sehnsucht ist ein großartiger, dreidimensionaler, weiblicher Charakter, sie ist eine Spiegelung des Autors. Stanley Kowalski hingegen ist das Objekt von Williams’ homosexuellen Wünschen. Das heißt, man muss weder Williams’ noch Tschaikowskis Biografie kennen, um ihre Stücke zu verstehen und nachzuempfinden. Ihre Homosexualität ist in diesem Sinne nicht wichtig. Die Oper berührt das Publikum, weil dank Tschaikowskis Genie, alle, Männer wie Frauen, heterosexuell wie homosexuell, sich mit Tatjana identifizieren können.

Welchen Bühnenraum findet man für ein solch realistisch daherkommendes Werk?

Barrie Kosky Gemeinsam mit meiner Bühnenbildnerin Rebecca Ringst habe ich nach einer poetischen Landschaft mit lebensnahen Figuren gesucht. Es ist ja eigentlich kein Realismus, um den es hier geht. Zwar reden wir über Tschechow, aber natürlich sind wir auf der Bühne in einer Traumwelt. Das Stück ist eine Landschaft aus Widersprüchen und kleinen wunden Punkten, die die größten Emotionen hervorrufen. Die musikalische Landschaft Tschaikowskis ist natürlich anders als die Landschaft Tschechows, aber in ihrer Emotionalität sind sich diese beiden Landschaften sehr ähnlich. Gemeinsam ist beiden, dass man auf der Bühne echte Menschen erlebt. Leoš Janáček hat das später weiterentwickelt, seine Opern sind sozusagen Tschaikowskis Enkel.

Die Arbeit mit den Körpern der Darstellerinnen und Darsteller, mit einer Sopranistin und einem Bariton auf der Probebühne, wird für mich – wie so oft – zu einem Tanz, einem psychologischen Tanz mit Licht. Ich suche danach, Körper, Stimme, Raum, Licht und Klang nahtlos miteinander zu verbinden. Dazu haben wir sehr viele Details sehr langsam mit den Sängerinnen und Sängern erarbeitet. Mit Bauchgefühl und Vertrauen bin ich auf ihre Vorschläge eingegangen. Anders als etwa bei Moses und Aron oder Ball im Savoy wünsche ich mir, dass die Menschen aus Jewgeni Onegin kommen und über Tatjana und Onegin sprechen, nicht über meine Inszenierung. Es ist ein rätselhaftes Werk über rätselhafte Beziehungen – am Ende steht als Antwort auf die Frage, was die Liebe sei, kein Punkt, sondern ein Fragezeichen.