Mit Oper unter­wegs im Sammel­taxi

Egal ob Hinterhöfe, Waschsalons oder ein Boxclub: überall, wo ein kleines Ensemble aus Musiker:innen und Darsteller:innen Platz finden, kann auch Oper gespielt werden. Mit dem Programm »Selam Opera!« bringt die Komische Oper Berlin seit 2011 Opernatmosphäre in die Kieze der Hauptstadt und macht Musiktheater unglaublich nahbar. Längst hat sich mit seinen Formaten wie dem Operndolmuş oder der Pop-up-Opera daraus ein lebendiges Dialogformat zwischen der Oper und seinem Publikum entwickelt. Nun erhielt der Ideengeber und Leiter des Programms Mustafa Akça den Bundesverdienstorden der Bundesrepublik Deutschland. Im Gespräch erklärt er, was Oper mit Sammeltaxis gemein hat, wie Musiktheater im Austausch mit dem Publikum zu einem intimen und emotionalen Erlebnis werden kann – und wie das interkulturelle Programm »Selam Opera!« die Komische Oper Berlin verändert hat.


Raus in die Stadt, rein in die Kieze – »Selam Opera!« ist Musiktheater im Austausch mit der Stadtgesellschaft. Wofür steht das Programm heute?

Mustafa Akça: Nach mehr als zehn Jahren hat sich für mich herauskristallisiert, dass »Selam Opera!«vor allem dafür sorgt, dass Menschen durch Musiktheater ins Gespräch kommen über ihren Alltag, ihre Lebensgeschichten. Und das geht am besten, wenn wir die Menschen an ihren Lebensorten und in den Kiezen besuchen. »Selam Opera!« ist ein Programm, bei dem wir mit verschiedenen Projekten das Opernhaus verlassen und raus in die Stadt gehen. Wir bringen die Atmosphäre, den Geist und die Freude der Opern und Operetten der großen Bühne im Schillertheater an alltägliche und auch ungewöhnliche Orte. Das kann eine Bäckerei, ein Gemeindehaus, ein Hinterhof oder ein Waschsalon sein. Elementar bei allen Projekten von ist es aber, Vertrauen aufzubauen zu unserem Publikum, indem wir Geschichten und Wünsche unseres Publikums aufnehmen und in die verschiedenen Projekte unter dem Dach von »Selam Opera!« einfließen lassen.

Selam Opera!

Seit 2011 hat Selam Opera! eine Vielzahl von Formaten entwickelt, die auf die Belange der heutigen Stadtgesellschaft eingehen und von der Opernwelt oft wenig beachtete Bevölkerungsgruppen in den Fokus rücken. Mehr erfahren …
Im Großen Saal der Komischen Oper Berlin ist Platz für fast 1000 Gäste, in einen Waschsalon passen vielleicht nur 30 Menschen. Die Veranstaltungen im Rahmen von »Selam Opera!« scheinen sehr persönlich und intim zu sein...

Mustafa Akça: Das stimmt – und das spiegelt das Herzstück unseres Programms vielleicht am besten wider: der Operndolmuş. Dolmuş heißt übersetzt so viel wie »überfüllt« und ist eine Art türkische Institution. Gemeint sind damit Sammeltaxis, wie sie etwa in Istanbul durch die Straßen fahren. Unser Sammeltaxi – der Operndolmuş – bringt Orchestermusiker:innen und Sänger:innen unseres Ensembles an Orte, die Mittelpunkte des Alltags sind. Im Gepäck haben wir immer ein Repertoire aus Musikstücken, die gerade auf der großen Bühne gespielt werden. Dieses Programm passen wir für jeden Auftritt thematisch an. Aber weil es auch darum geht, mit unserem Publikum ins Gespräch zu kommen, nehmen wir auch dessen Wünsche mit auf und spielen vielleicht zwischen Antonín Dvořák und Oscar Straus auch Hits anatolischer Rockmusik.

Das klingt sehr lebendig...

Mustafa Akça: Das ist es auch. Und es kann sehr emotional sein: die Habanera, die berühmte Arie aus der Oper Carmen, haben unsere Ensemblemitglieder bei einem Operndolmuş auf Türkisch gesungen und sie so auf »Augenhöhe« für die Zuschauer:innen gespielt – das hat einige unter ihnen zu Tränen gerührt. Darum geht es eigentlich bei allen »Selam Opera!«-Projekten: Mit Musiktheater und unserem kleinen Ensemble Raum für mehr zu eröffnen, das Herz der Menschen zu erreichen. Bei den Auftritten des Operndolmuş ist es also fast wie auf einer Fahrt in einem richtigen Dolmuş: Diese Sammeltaxis sind oft überfüllt. Hier tauschen sich die Leute aus über Kunst, Politik oder erzählen sich über ihre Alltagssorgen. Und auch, wenn man nur zuhört, ist man nach einer solchen Fahrt auf dem aktuellen Stand, was die Gesellschaft im Kleinen gerade umtreibt. Diese Nähe, wie sie in den türkischen Sammeltaxis zwischen Menschen erlebt wird, stellt sich auf all unseren Auftritten des Operndolmuş ähnlich ein: es gibt keinen Orchestergraben, keinen riesigen Bühnenraum – und es fühlt sich an, als säße jede:r im Publikum mit auf der Bühne...

Mustafa Akça, seit 2011 Leiter des interkulturellen Projekts »Selam Opera!« & Mitarbeiter der Dramaturgie. Mehr erfahren …

Und das eröffnet den Raum für persönliche Gespräche?

Mustafa Akça: Ja, jedes Mal, weil das Publikum uns vertraut und das Authentische unserer Auftritte schätzt. Wir hören dann oft sehr persönliche Geschichten und bekommen Einblicke in spannende Biografien. Vor anderthalb Jahren fragte uns eine Frau in einer Gesprächsrunde nach einer Weile, warum wir nicht die Geschichte der Arbeitsmigrantinnen erzählen, die ihre Familie in ihrem Heimatland zurückließen und zum Arbeiten nach Deutschland kamen. Das fanden wir so spannend, dass sich daraus unser kommendes Projekt Fatma & Fatoş entwickelt hat. Seitdem sammeln wir nach unseren Auftritten des Operndolmuş diese Geschichten – Lebensgeschichten der Frauen aus der ersten und zweiten Generation, die in den 1960er und 1970er Jahren nach Deutschland gekommen sind. Und sie erzählen uns sehr frei ihr Leben als Gastarbeiterinnen und ihr Ankommen in Berlin. Aber auch, welche Musik sie mitgebracht haben. Das ist für uns sehr spannend.

Das kann man sich gut als dokumentarisches Theater vorstellen. Wie macht ihr mit »Selam Opera!« daraus Musiktheater?

Mustafa Akça: Wenn wir etwa unsere Programme für den Operndolmuş planen, arbeiten wir genauso wie bei Inszenierung der Opern auf der großen Bühne der Komische Oper Berlin. Wir beziehen alle Abteilungen des Hauses mit ein: die Kostüm- und Maskenabteilung, die Requisite, die Dramaturgie und die Intendanz. Und wir haben auch eine Regisseurin und eine musikalische Leitung, die aus dem Repertoire des Spielplans passende Stück sucht, die zum Thema passen und die sie für unsere Auftritte arrangiert. Wichtig ist aber auch, die Musik in das Programm zu nehmen, die unserem Publikum etwas bedeutet. Die arbeiten wir dann mit den Ensemblemusiker:innen und -sänger:innen zu Opernstücken um. Zwischen die Stücke reihen wir Dialoge und Erzählpassagen ein, die die persönlichen Geschichten unseres Publikums hautnah erlebbar machen. So entsteht ein Musiktheater, das nah am Leben und dem Alltag unsere Zuschauer:innen ist und sie begeistert.
Der Operndolmuş zeigt „Hadi Bakalım – Auf geht's!“
Ergeben sich daraus auch Impulse, die auf die große Bühne der Komischen Oper Berlin einwirken?
Mustafa Akça: Ja, natürlich. Es ist nicht so, dass wir nur die große Bühne hinter uns lassen, wenn wir raus in die Stadtgesellschaft gehen. Die Wünsche unseres Publikums nehmen wir auch mit zurück ins Haupthaus. Ich glaube, die türkisch-deutsche Kinderoper Die Bremer Stadtmusikanten wäre ohne »Selam Opera!« nicht denkbar gewesen. Die Idee dazu ist aus dem Wunsch unseres Operndolmuş-Publikum entstanden, den wir an die Intendanz weitergegeben haben. Als Auftragswerk wurde das 2017 auf die Bühne gebracht. Auch das Neujahrskonzert / Yeni Yil Konseri mit Fazıl Say & Cem Adrian wurde durch »Selam Opera!« angestoßen. Dass das möglich ist, liegt auch daran, dass das Projekt auf seine Art infizierend ist: Der Austausch zwischen uns nach einem Auftritt etwa, wenn wir mit unserem Bus zurückfahren, ist immer sehr lebendig, die Erinnerungen, die wir zurück in die Komische Oper Berlin tragen, sind sehr positiv. Aus dieser 'Infektion' entstehen dann wieder neue Ideen.
Es ist mir eine Herzens­angelegen­heit, die Teil­habe aller, egal welcher Her­kunft, Kultur oder Reli­gion, möglich zu machen und zu fördern. Wirklich alle sollen ein­geladen sein.
Mustafa Akça zur Verleihung des Bundesverdienstordens am 9. April 2024
»Arie der Parasja« aus »Der Jahrmarkt von Sorotschinzi«
Es singt: Mirka Wagner, am Bajan: Juri Tarasenok

Pop-Up-Opera auf der Kreuzberger Admiralbrücke
Wie sieht eine solche 'Infektion' aus?

Mustafa Akça: Da muss ich vom Projekt Pop-up Opera erzählen. Die Idee dazu ist 2015 rund um die Inszenierung My Fair Lady entstanden. Auf der Bühne stand damals ein überdimensioniertes Grammophon. Das erinnerte an die Antiquitäten- und Trödelläden, wie sie in Berlin Neukölln oder Kreuzberg zu finden sind. Also haben wir uns gedacht: warum machen wir nicht einen dieser Läden zu einer Kulisse für eine Szene aus der Inszenierung? Mit einem kleinen Ensemble haben wir uns einen Laden mitten in der Stadt gesucht und dort einen kurzen Ausschnitt vor antiken Möbeln und Trödel gespielt. Daraus ist ein virales Video entstanden, dass zeigt, wie nah klassisches Musiktheater dem Alltag sein kann – und wie unterhaltsam und cool. Inzwischen versuchen wir das zwei- bis dreimal pro Spielzeit auf die Beine zu stellen.

Und seit dem Start von »Selam Opera!« hat die Komische Oper Berlin viele neue Opernfans?

Mustafa Akça: Ich denke schon, dass wir es geschafft haben, neues Publikum für unser Opernhaus zu begeistern. Aber wir erwarten nicht, dass jeder, der über »Selam Opera!«mit dem Geist der Komischen Oper Berlin in Kontakt kommt, gleich Karten für die nächste Vorstellung kauft. Wichtiger ist, mit dem Publikum der »Selam Opera!«-Formate im Austausch zu bleiben. Die haben inzwischen eine feste Fangemeinde, Fans, die auch das Haus nun besser kennen und wissen, dass die Türen für alle offen sind, nicht nur bei Aufführungen auf der großen Bühne. Das sehe ich jedes Mal bei einem Auftritt unseres Kinderchors: den haben wir mit unseren Projekten bekannter gemacht – mit dem Effekt, dass er nun viel diverser ist als noch vor einigen Jahren. In »Selam Opera!« sehe ich deshalb eher einen Anstoß zum Dialog zwischen der Komischen Oper Berlin und der Stadtgesellschaft, weniger ein klassisches Vermittlungsprojekt. Wir bauen Brücken mit allen Facetten des Musiktheaters – und geben unserem Publikum die Freiheit, das mit eigenen Themen mitzugestalten.

Mehr zu den »Selam Opera!«-Projekten

­KOBSelamOpera