Ein Le­ben in Lie­dern

Über Kurt Weill und sei­nen Song­stil – von Maxi­milian Hage­meyer
Es war einmal vor langer Zeit, als das Komponieren eines Liedes zur höchsten künstlerischen Gattung zählte. Es waren die Tage, in denen Künstler wie Hugo Wolf, Franz Schubert und Robert Schumann die Fixsterne der europäischen Kunstmusik bildeten und in denen die »Musikalische Lyrik« unter anderem die höchste künstleri- sche Weiheprüfung darstellte. Dass sich keine hundert Jahre nach Franz Schubert ein junger Mann aus Dessau auf ganz eigene Weise in diese illustre Runde einreihen würde, war für jenen »jungen Mann« selbst eine Überra- schung. Aber der Reihe nach …

Vom Gottes- zum Opern­haus

Am 2. März 1900 kommt in Dessau Curt Julian Weill auf die Welt. Er ist das dritte von insgesamt vier Kindern des jüdischen Kantors Albert Weill und seiner Frau Emma – beide stammen aus Rabbinerfamilien. Zu dieser Zeit zählt die jüdische Gemeinde in Dessau zu den fortschrittlichsten im deutschsprachigen Raum und kommt auf 600 Gemeindemitglieder (bei 15.000 Einwohner:innen). Es ist also kaum verwunderlich, dass der junge Curt Julian von klein auf mit der Musik der Synagoge aufwächst. Nicht nur, dass sie lange Zeit den Broterwerb des Vaters darstellt, Albert Weill selbst gilt als wichtiger Komponist jüdischer Gesänge und veröffentlichte bereits 1893 seine Sammlung Kol Avhram. Schon mit neun Jahren wird die besondere musikalische Begabung des jungen Kurt (wie er sich jetzt selbst schreibt) festgestellt und er erhält seinen ersten Klavierunterricht. Wenig später erregt aber ein anderes Gebäude als die (heimische) Synagoge seine Aufmerksamkeit. Es ist das Herzogliche Hoftheater, das die Schritte des jungen Kurt Weill in Richtung Opernbühne lenkt. Mit zehn Jahren erhält er freien Eintritt zu allen Proben und schon als Teenager übernimmt er erste kleinere Aufgaben als Repetitor. Bald entstehen kleinere Kompositionen: ein kleiner a-Capella-Chor, ein jüdischer Trauungsgesang und vor allem eine Reihe erster Gedichtvertonungen. Mit dem späteren Songstil der Dreigroschenoper haben diese allerdings noch nichts zu tun. Es sind kleine Kunstlieder, wenn auch schon mit einem beachtlichen musikalischen Ausdruck für einen 17-jährigen Heranwachsenden, die sich aber noch deutlich an den Vorbildern der Romantik orientieren. Der Berufswunsch Komponist steht nun deutlich vor Augen und so beginnt Kurt Weill im April 1918 sein Studium an der Hochschule für Musik in Berlin, unter anderem bei Engelbert Humperdinck als Kompositionslehrer.

Szene aus …und mir morgen könnt ihr mich

Auf Bret­tern, die die Welt be­deu­ten

Der berufliche Werdegang geht jetzt im Sauseschritt: 1919 folgt für eine Saison ein Engagement als Kapellmeister am Stadttheater Lüdenscheid – mit allen Aspekten, die die Arbeit an einem Opernhaus in der Provinz mit sich bringt: Stimmen einrichten, Proben leiten, ständige Wechsel im Repertoire und musikalische Arbeit für das Schauspielensemble. Dennoch, oder gerade deswegen, bleibt es eine prägende Erfahrung in Weills Karriere. Denn nun wird für ihn endgültig klar, dass das Theater seine »eigentliche Domäne« sein soll. Zurück in Berlin erfolgt die Feuertaufe: Weill wird als einer von nur fünf Schülern in die persönliche Meisterklasse von Ferruccio Busoni aufgenommen. »Ich führe ein schönes Leben zwischen fruchtbarer Arbeit und köstlichem Gedankenaustausch mit Busoni, der mich immer noch ins Herz geschlossen hat«, hält Weill wenig später fest. In dieser Zeit entstehen die ersten überdauernden Werke Weills: die erste Sinfonie, die Ballett-Pantomime Zaubernacht sowie der Liederzyklus Frauentanz. Der erste Schritt auf die Opernbühne erfolgte dann 1924 mit Der Protagonist.

Es ist eine Umformung des gleichnamigen Schauspiels von Georg Kaiser – einer der wichtigsten deutschen Dramatiker der damaligen Zeit. In der Zusammenarbeit zwischen Kaiser und Weill entsteht so der erste große Achtungserfolg für den jungen Komponisten auf der Opernbühne. Eine Kollaboration, die 1933 mit Der Silbersee ihre Fortsetzung findet.

Voll­tref­fer

Zu einem zeitgeschichtlich legendären Treffen kommt es, als Kurt Weill im März 1927 einen anderen deutschen Dramatiker und Lyriker kennenlernt: Bertolt Brecht. Weills Musik hatte in der Zeit seit 1924 eine Wandlung erfahren. Während Der Protagonist sich noch ganz in den Windschatten der Musiktheater-Tradition stellt und voller kompositorischer Finesse daherkommt – kunstvoll ausgeschmückte Harmonik und komplexer Kontrapunkt – ist das Folgewerk Royal Palace Weills erster Beitrag zur sogenannten »Zeitoper«: Harmonik und Kontrapunkt sind nun vereinfacht, es tauchen erste verfremdete Anklänge der Jazzmusik sowie Revueelemente auf. Das Libretto des Lyrikers Yvan Goll konnte den Ansprüchen von Weill an eine neue Opernform allerdings leider nicht gerecht werden. Weill wendet sich nun für das Festival Deutsche Kammermusik Baden-Baden dem Mahagonny-Songspiel zu und vertont dafür fünf Gesänge aus Brechts kurz zuvor erschienener Hauspostille. Das Songspiel soll den beiden als Stil-Studie für eine groß angelegte Oper dienen, die 1930 als Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny ihre Uraufführung feiert. Doch bis dahin kommt es zu einem weiteren legendären und viel erzählten Zusammentreffen. Ernst Josef Aufricht, Schauspieler und Theaterdirektor, hatte das Theater am Schiffbauerdamm für eine Saison gepachtet. Was ihm dafür fehlte, war die Eröffnungsproduktion. Und so wendet er sich – kurz vor knapp – an Bertolt Brecht, der ihm von einem Stück mit der Musik von Kurt Weill auf Grundlage der Beggar’s Opera von John Gay berichtet. Die Keimzelle der Dreigroschenoper!
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Oper voller Songs

»Es galt eine Musik zu schreiben, die von Schauspielern, also von musikali- schen Laien gesungen werden kann. Aber was zunächst eine Beschrän- kung erschien, erwies sich im Laufe der Arbeit als eine ungeheure Berei- cherung. Erst die Durchführung einer fassbaren, sinnfälligen Melodik ermöglichte das, was in der ›Dreigroschenoper‹ gelungen ist, die Schaffung eines neuen Genres des musikalischen Theaters.«

Was auf den ersten Blick wie eine Nebentätigkeit für einen vollumfänglichen Komponisten wie Weill aussieht, stellt in Wahrheit nichts weniger als die Neuerfindung der Gattung Lied dar: Der Song-Stil ist geboren. Bereits Ferruccio Busoni hatte seinem Schüler mit auf den Weg gegeben: »Fürchten Sie sich nicht vor Banalität, schließlich gibt es lediglich zwölf Töne in der Tonleiter!« Wobei von Banalitäten bei den neuen Song-Kompositionen keine Rede sein konnte. Weill findet in ihnen zu einem ureigenen Tonfall in den Melodien und den harmonischen Ausarbeitungen, der ihn über Jahrzehnte hinweg unverkennbar macht. Niemand geringeres als Theodor W. Adorno bilanzierte dies folgendermaßen:

»Weill komponiert seine neuen Melodien, die alten zu deuten, selber schon in Brüchen, fügt die Trümmer der Floskeln aneinander, die die Zeit zer- schlagen hat. Die Harmonien, die fatalen verminderten Septimakkorde, die chromatischen Alliterationen von diatonisch getragenen Melodieschritten, das Espressivo, das nichts ausdrückt, sie klingen uns falsch – also muss Weill die Akkorde selber, die er da herholt, falsch machen, zu den Dreiklän- gen einen Ton hinzusetzen.«
Es ist die Symbiose aus Kunstmusik und dem populären Lied – ebenso wie Schubert und Wolf sie ihrerseits suchten und fanden – die Weill hier in den 1920er Jahren von neuem »destilliert«.

Schon bald nach der Uraufführung bricht das Dreigroschen-Fieber in Berlin aus. Weill und Brechts Neuinterpretation des Operngenres muss noch zwei Jahre bis zur Aufführung von Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny warten – aber das Schauspiel mit Musik und der Song als das Klangkonstrukt seiner Zeit ist revolutioniert. Flugs folgt ein Jahr später mit Happy End ein weiteres »Songspiel« aus der Feder von Brecht und Weill. Auch hier bekommen Lieder wie »Surabaya Johnny« oder »Die Ballade von der Höllen-Lili« ein zweites Leben außerhalb ihres Werkkontextes geschenkt. So ist es selbstverständlich, dass sich das Liedprogramm zu … und mit morgen könnt ihr mich! größtenteils aus dem üppigen Angebot dieser beiden Werke speist – wenn auch in völlig neuen Kontexten und Konstellationen.
Ein Rat für morgen ist kein Rat,
jeder bereut morgen, was er heute tat,
jeder verreckt daran früh oder spat.
Doch um wen ist es schon schad’?
... und mit morgen könnt ihr mich!
Die Ballade von der Höllen-Lili

Songs vol­ler The­ater

»Für mich ist der Songstil auf die Dauer nicht kopierbar, und ich habe […] nicht die Absicht, ihn zu kopieren. […] Ich selbst, der erst vor einem Jahr diesen Stil geprägt hat, [bin] unterdessen in aller Ruhe meinen Weg weitergegangen.«

Auch wenn Weill sein eigenes Tun so einordnet – und mit Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny wenig später zeigt, was er mit seinem »Weg« meinte – entstehen zahlreiche Lieder und Songs, die den Vergleich mit den Songs aus der Dreigroschenoper und Happy End nicht scheuen müssen: sei es die Vertonung von Erich Kästners Gedicht »Der Scheidebrief« (derbei Weill zum »Abschiedsbrief« wird), sei es »Nannas Lied« oder auch das mitreißende »Berlin im Licht«. Der Klang der Weimarer Republik ist aufs engste mit jener Tongestalt von Kurt Weills Musik verbunden. Wesentlich weniger bekannt aus der Auswahl für dieses Programm sind hingegen Kompositionen wie »Das Lied vom blinden Mädchen« oder auch »Ba’a M’nucha« (There comes peace). Ersteres entsteht im November 1931 für
die »Rote Revue«, die eine Gruppe junger Schauspieler:innen als Aufruf zur Solidarität mit links gerichteten und sozialistischen Künstler:innen zusammenstellt. Es gelingt ihnen, die künstlerische Avantgarde für dieses Projekt zu gewinnen. Von musikalischer Seite sind u. a. Hanns Eisler und Friedrich Hollaender dabei, als Autoren sind es Künstler wie Bertolt Brecht oder Erich Weinert. Für diese Revue komponiert Weill Musik auf einen Text von Günther Weisenborn. Es ist die satirische Aufarbeitung einer Anekdote um den Kirchengründer und Wunderheiler Joseph Weißenberg. Dieser stand ein Jahr zuvor vor Gericht, weil er bei dem Versuch, die Augen eines jungen Mädchens mit Quarkwickeln zu behandeln, eine Erblindung herbeigeführt haben soll. Es stellte sich schnell heraus, dass das Kind bereits vor der Behandlung erblindet war … Doch die Anekdote war geboren und die Revue nahm den nationalistisch gesinnten Weißenberg mit Freude aufs Korn.

»Ba’a M’nucha« hingegen ist mindestens genauso unbekannt und – wenn man es genau nimmt – nur zu einem Teil ein Werk aus der Feder Kurt Weills. Es schlägt einen Bogen von Weills frühkindlicher musikalischer Sozialisation hin zu seiner Emigration. In den späten 1930er Jahren lässt der Musikwissenschaftler Hans Nathan Postkarten mit Texten und Melodien hebräischer Volkslieder verschicken – in der Hoffnung, Komponist:innen würden sie aufgreifen und neu bearbeiten. Das Projekt bringt auf diese Weise Neuarrangements etwa von Paul Dessau, Aaron Copland, Arthur im amerikanischen Exil mit Klavierbegleitung aus, wovon das zweite, »Ba’a M’nucha«, in diesem Programm erklingt und damit die Weite von Weills musikalischem Spektrum erfahrbar macht.
Szene aus …und mir morgen könnt ihr mich

Zahn der Zeit

»Dass meine Musik zur ›Dreigroschenoper‹ industrialisiert worden ist, spricht ja nach unserem Standpunkt nicht gegen sondern für sie, und wir würden in unsere alten Fehler zurückfallen, wenn wir einer Musik ihren künstlerischen Wert und ihre Bedeutung absprechen würden, nur weil sie den Weg zur Menge gefunden hat«.

Die mediale Verwertung des musikalischen Materials eines Bühnenwerks ist in den 1920er und -30er Jahren gang und gäbe. Die Melodien aus den Operetten Leo Falls, Oscar Straus’ oder Paul Abrahams etwa finden auf Schellack ihren Weg zu einem breiten Publikum – zum Teil sogar schon vor der Premiere! Und auch Kurt Weills Songs werden »industrialisiert«, allen voran das musikalische Material der Dreigroschenoper. Mackie Messer und Seeräuber Jenny treiben seitdem nicht nur auf der Bühne ihr Unwesen, sondern auch in zahlreichen festgehaltenen Interpretationen, angefangen bei Lotte Lenya: Nicht nur als Ehepartnerin, sondern auch als musikalische Partnerin von Kurt Weill ist es zuvorderst ihre Stimme, die die Musik von Weill für die Ewigkeit auf Aufnahmen bannt. Doch überstehen nicht nur ihre Interpretationen den Zahn der Zeit, auch eine schier unendliche Bandbreite an Künstler:innen nimmt die Musik von Kurt Weill bis heute mit auf ihre Reise durch die Jahrzehnte: egal ob Nina Simone, Frank Sinatra, Hildegard Knef, Duke Ellington, The Doors oder Nick Cave und Sting. Sie alle erweisen dieser unsterblichen Musik ihre Ehre und kleiden sie in ihren persönlichen Stil. Auch die Arrangements von Kai Tietje für dieses Programm tragen die Songs und Lieder – die zum größten Teil aus Weills Berliner Zeit stammen – heraus aus ihrem Entstehungskontext und hinein in einen künstlerischen Raum, der auch Weills Zeit in den Vereinigten Staaten miteinbezieht: vom satten amerikanischen Big Band Swing, über den Broadway der 1940er Jahre (den Weill selbst nach seiner Auswanderung revolutionierte), bis zu südamerikanischen Anklängen. Und so geht in diesen Arrangements Weills Musik »ihrer Wege«, so wie Weill seinen Weg ein Stück weit mit ihnen gegangen ist. Über die Türschwelle des Komponisten, in die Theater dieser Welt, in die Grammophone der Tanzsalons und wieder raus in eine nie enden wollende Berliner Nacht … denn mit morgen könnt ihr mich!

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11. Januar 2024

Herzlichen Glückwunsch Katharine Mehrling!

»Sie ist eine Ausnahmekünstlerin, großartig, facettenreich und wirklich einzigartig … wir lieben sie einfach!« diese Worte fallen vergangenen Samstag in unserem Foyer, wenn man unsere Gäste nach Katharine Mehrling fragt. Nicht nur wir sind ihre größten Fans – auch die Mitglieder des Theaterclubs e.V. sind ihr und ihrer künstlerischen Perfektion verfallen. Zum siebten Mal wurde Katharine Mehrling mit dem Theaterpreis »Goldener Vorhang« geehrt, in diesem Jahr für den Weill Abend … und mit morgen könnt’ ihr mich!. Absolut verdient, finden wir und möchten ihr gratulieren und uns bei ihr für all die unvergesslichen Abende bedanken!
28. März 2023
Ihren Ruf als große Kurt-Weill-Interpretin hat Katharine Mehrling mit diesem Abend zementiert. Einen genialen Spielpartner hat Kosky Mehrling mit dem Tänzer Michael Fernandez an die Seite gestellt.
Als hörte man sie zum ersten Mal
Susanne Lenz, Berliner Zeitung
#KOBBerlinAbend
27. März 2023
Mit welcher Virtuosität sich Katharine Mehrling von der Dreigroschen-Hure über die Seeräuber-Jenny bis zum armen Marterl in Weills 'Berliner Requiem' stimmlich und in der Erscheinung wandelt, ist bewundernswert
Mehrling: Songs über Geld, Liebe oder sexuelle Hörigkeit
Matthias Nöther, Berliner Morgenpost
#KOBBerlinAbend
27.03.2023
Ein tolles, trotziges Finale mit Katharine Mehrling auf dem nächsten Höhepunkt ihrer Karriere.
»Und mit morgen könnt ihr mich!«: Katharine Mehrling in der KOB
Hans Ackermann, rbb inforadio
#KOBBerlinAbend