Späte Wiederentdeckung

Ungefähr 10.000 Notenblätter sind im Nachlass des jüdischen Komponisten Hans Winterberg erhalten. Es sind Partituren für rund 80 Werke, darunter Sinfonien und Klavierkonzerte, Klavier- und Kammermusik. Dass diese lange verschollenen Werke nun wieder gespielt und wie nun an der Komischen Oper Berlin sogar uraufgeführt werden, ist seinem Enkel Peter Kreitmeir zu verdanken. Im Interview erzählt er, wie er die Werke entdeckt hat und welche Hürden er nehmen musste, damit die Musik seines Großvaters wieder in Konzertsälen erklingen kann.
Am 4. November werden die Sinfonischen Tänze, Werke ihres Großvaters Hans Winterberg in Berlin mit dem Orchester der Komischen Oper Berlin uraufgeführt. Wie schauen sie auf das Konzert im Konzerthaus Berlin?

Peter Kreitmeir: Mich bewegt es immer sehr, wenn ich Kompositionen meines Großvaters in einem Konzert hören kann. Ich fühle mich ihm dann sehr verbunden, weil ich über die Musik einen Teil meiner Familie entdeckt habe, von dem ich lange gar nichts wusste. Leider habe ich ihn nie persönlich kennen gelernt und wusste nur wenig über ihn aus knappen Erzählungen meines Vaters. Ich wusste lange Zeit nur, dass er als Jude in Prag aufgewachsen ist und dort gelebt hat, kurz vor Ende des zweiten Weltkrieges nach Theresienstadt deportiert wurde und das Lager als einziger Komponist überlebt hat. Seine Musik heute zu hören erfüllt mich mit Freude und auch mit Stolz, weil Werke meines Großvaters größtenteils noch gar nicht aufgeführt wurden – wie auch die Sinfonischen Tänze.

Sie haben also keine Vorstellung, was sie beim Konzert erwartet, wie die Sinfonischen Tänze klingen?

Peter Kreitmeir: Nein, noch nicht. Sie wurden noch nie öffentlich gespielt und ich kann auch keine Noten lesen. Aber ich stelle mir heute vor, dass die Stücke vielleicht einige seiner leichteren, fröhlicheren Kompositionen sind. Die Sinfonischen Tänze hat mein Großvater Hans Winterberg 1935 in Prag geschrieben, im Geburtsjahr meiner Mutter. Mein Großvater hat versucht, damals einen Verlag für die Stücke zu finden. Allerdings scheiterte dies und sie wurden nicht aufgeführt. Ich habe einmal ein Foto von ihm und seiner Tochter – meiner Mutter – gesehen. Es zeigt sie ungefähr 1937 auf einem Ausflug in der Nähe von Prag. Sie sitzen an einem Bach und mein Großvater trägt Anzug mit einer Bundhose, eine Baskenmütze und ein kleines Bärtchen – sehr französisch. Und: er hat Notenblätter in der Hand, also hat er damals komponiert. Während in Deutschland Juden zu der Zeit verfolgt und eingeschränkt wurden, war das Leben in Prag noch frei davon. Und dies idyllische Bild verbinde ich heute mit den Sinfonischen Tänzen.
Ruth Winterberg als 2jähriges Mädchen mit Vater Hans Winterberg an einem Bach
Hans Winterberg mit seiner Tochter in der Nähe von Prag, 1937

Notenblätter unter Verschluss

Erst in den vergangen Jahren werden Werke von Hans Winterberg wieder gespielt und aufgeführt. Warum hat es so lange gedauert, dass die Musik ihres Großvaters erlebt werden kann?

Peter Kreitmeir: Das ist eine lange Geschichte. Als 1939 die Wehrmacht in Prag einmarschierte, erhielt mein Großvater Berufsverbot. Weil er mit einer Katholikin verheiratet war, in einer so genannten 'privilegierten Mischehe', blieb er auch lange von den Deportationen verschont – bis Januar 1945 als er ins Konzentrationslager Theresienstadt verbracht und am 8. Mai 1945 befreit wurde. 1947 emigrierte mein Großvater Hans Winterberg aus der damaligen Tschechoslowakei nach Bayern, nach München und hat dann beim Bayerischen Rundfunk gearbeitet. Er hat dort als freier Mitarbeiter Radiosendungen lektoriert und nebenbei komponiert. Einiges wurde für Radiokonzerte auch gespielt und es gibt Tonbandaufnahmen aus dieser Zeit. Aber seine Werke, die vor oder während des 2. Weltkrieges entstanden, blieben bis 2016 ungespielt. Auch weil all die Notenblätter nach seinem Tod 1991 verschlossen blieben und als Original sogar bis heute.
Warum lagen die Partituren unter Verschluss?

Peter Kreitmeir: Meine Eltern wurden kurz nach meiner Geburt geschieden und zu der Familie mütterlicherseits gab es nie Kontakt. Ich habe mich ab 2010 auf die Suche nach den Spuren dieser Seite meiner Familie gemacht. Ich fing an, im Internet nach ihm zu recherchieren und habe erfahren, dass mein Großvater in Steppberg bei Ingolgstadt gestorben und in Bad Tölz sein Grab zu finden ist. Über das Friedhofsamt habe ich dann Kontakt zum Grabinhaber aufgenommen und dabei erfahren, dass über die Weiterführung des Grabes verhandelt würde. Und eines Tages rief mich der Erbe meines Großvaters an, sein Adoptivsohn aus seiner vierten Ehe und ich bot ihm an, die Pflege des Grabes von Hans Winterberg zu übernehmen. Mit dem Erben, Christoph Winterberg, meinem Onkel sozusagen, habe ich mich damals häufiger getroffen und ihn über meinen Großvater ausgefragt.
Hans Winterberg beim Klaviespielen
Hans Winterberg, Mitte der 1960er Jahr in München
Und ihr Onkel Christoph Winterberg hat ihnen dann die Notenblätter von Hans Winterberg überreicht?

Peter Kreitmeir: Nein, die hatte er damals schon nicht mehr. Mein Onkel – Christoph Winterberg – hatte sie 2002 an das Sudetendeutsche Musikinstitut (SMI) in Regensburg verkauft. Und mit einem Sperrvertrag versehen lassen, der festgelegt hat, dass mein Großvater – ein Prager Jude – nur als sudetendeutscher, aber niemals als jüdischer Komponist bezeichnet werden darf, zeitlich und örtlich unbegrenzt. Und der Vertrag hätte auch eine Aufführung seiner Werke bis 2031 verboten. Diese Vereinbarung ließ ich 2015 aufheben, weil sie die Geschichte und die jüdische Identität meines Großvaters ausgelöscht hätte. Dabei hat mir Eric Randol Schoenberg, Enkel des Komponisten Arnold Schönberg geholfen, den ich bei meinen Recherchen nach meinem Großvater kennen gelernt habe. Die Notenblätter konnte ich dann nur mit anwaltlicher Hilfe im SMI einscannen – ungefähr 10.000 Stück. Die Originale sind bis heute aber im Archiv des SMI und werden nicht herausgegeben, nicht einmal als Leihgabe, auch nicht für Forschungszwecke. Als mein Onkel Christoph Winterberg 2018 starb, gingen die Verwertungs- und Nutzungsrechte an mich über.

10.000 digitale Notenblätter machen noch kein Konzert – wie haben sie erreicht, dass die von allen musikalischen Einflüssen der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts geprägten Werke nun gespielt werden können?

Peter Kreitmeir: Ich habe mich schon 2015 mit Exilarte – Zentrum für verfolgte Musik Universität für Musik und darstellende Kunst Wien (mdw) zusammengeschlossen und die digitalen Notenblätter weitergereicht. Das Zentrum erforscht seine Werke zusammen mit dem Verlag Boosey & Hawkes kam im September sogar die erste Notenausgabe einer Sonate aus der Hand meines Großvaters Hans Winterberg heraus.
Hans Winterberg (li.) im Gepräch mit Rainer Miedél, Dirigent, über Stationen, uraufgeführt mit den Bamberger Symphonikern (1975)

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