Die Maske fällt, es bleibt der Mensch

Schwingende Rhythmen, verführerische Melodien und zauberhaft-surreale Motive ziehen sich durch das erste Sinfoniekonzert der Komischen Oper Berlin in dieser Spielzeit. Nicht zu Unrecht trägt es den Titel Maskenball, denn hinter der tänzelnden, oft mitreißenden Musik verbergen sich Geschichten von versiegter Liebe und unerfüllter Sehnsucht – menschliche Schicksale, die im historischen Lauf der Zeit triumphieren und im Angesicht des Todes einen Freudengesang auf das Leben anstimmen. Zeit, ein paar Geheimnisse zu lüften … von Julia Jordà Stoppelhaar

Das junge Po­len

Mieczysław Karłowicz stammte aus dem polnischen, heute belarussischen Wiszniew und war somit Landsmann der Dirigentin Marzena Diakun. Sein Vater war Linguist und Musiker, dessen Forschung die Familie nach Heidelberg, Prag und Dresden führte, bevor sie sich 1887 in Warschau niederließ. Während Mieczysław Karłowiczs Kompositionsstudiums in Warschau und seines Aufenthalts in Berlin seit 1895 entstanden 25 Lieder, bevor er sich ganz der Sinfonik zuwandte. Orchestrale Musik, so Karłowicz, das sei die

»Musik der Zukunft«. Zwischen 1903 und 1909 komponierte er sechs sinfonische Dichtungen, während er parallel einen Dirigierkurs in Leipzig absolvierte und somit seine eigenen Werke zur Aufführung brachte. Nachdem sich Karłowicz wiederholt mit dem Fördersystem des polnischen Musikestablishments konfrontiert sah – sein eigenes Streichorchester wurde von finanziellen Kürzungen getroffen – wurde er schließlich selbst aktiv und unterstützte Künstlerinitiativen. So konnte sein sinfonisches Triptychon Odwieczne pieśni (Ewige Lieder) 1907 beim zweiten Berliner Konzert des Vereinsverlags jungpolnischer Komponisten uraufgeführt werden. Der Vereinsverlag bestand aus Mitgliedern der »Młoda Polska w muzyce (Junges Polen in der Musik)« rund um Grzegorz Fitelberg, Karol Szymanowski und Ludomir Różycki, die eine modernistische Ästhetik nach Richard Strauss vertraten und sich kompositorisch von der Neoromantik inspirieren ließen. Auch wenn Karłowicz kein Mitglied war, so wurde er gemeinsam mit Karol Szymanowski zur treibenden Kraft der progressiven neuen Komponist:innen, die nicht mehr am polnisch-nationalen Musikstil festhielten. Karłowicz orientierte sich nicht nur an Richard Strauss, sondern auch an Richard Wagner und am Meister der romantischen Melodien: Pjotr I. Tschaikowski. Seinen sinfonischen Dichtungen liegen poetische, oft psychologische Ideen aus Malerei, Literatur und Philosophie zugrunde. Sie werden von einer düsteren Stimmung und Melancholie beherrscht. Bedenkt man die Eck- daten seines zu kurzen Lebens, scheint es geradezu ironisch, wie festlich der Beginn seines letzten Opus klingt.

Spurensuche 1

Karłowicz wurde 1876 geboren und nur 33 Jahre alt: Am Morgen des 8. Februar 1909, um 5:30 Uhr, begab er sich auf eine Skitour zu einem Gletscher- see und kehrte nicht mehr zurück. Eine Lawine begrub ihn unter sich. Die sinfonische Dichtung Episode auf einem Maskenball blieb durch diesen Unfall kurz vor dem letzten kompositorischen Schritt – der Instrumentierung – unvollendet.

Der Komponist Grzegorz Fitelberg nahm sich des letzten Werks seines Kollegen und Freunds Karłowicz an und orientierte sich bei seiner Instru- mentierung stark an dessen fünf existierenden sinfonischen Dichtungen. Etwas Detektivarbeit war aber dennoch gefragt, denn Fitelberg musste sich durch 40 Seiten fein säuberlich notierter Partitur mit Anmerkungen wühlen und in seiner Erinne- rung nach Gesprächen mit Karłowicz kramen, um die Episode auf einem Maskenball möglichst originalgetreu zu vollenden. Dabei entdeckte Fitelberg auf dem Kompositionsentwurf eine Randbemerkung, die dieser sinfonischen Dichtung eine Geschichte gibt: »Sie: (laut) ›Ich kenne dich nicht‹ (Unterton): ›Geh! … Was geschehen ist, kehrt nicht zurück … Hörst du? … Geh – Vergiss! …‹«
Mieczysław Karłowicz: Episode auf einem Masken- ball, Sinfonische Dichtung op. 14,Fragment
Vollendet und instrumentiert von Grzegorz Fitelberg
Veröffentlicht:1931 in Warschau
Wenige Worte beschreiben die Begegnung zweier Menschen – ein Paar? –, die einander loslassen und verleugnen. Diese Momentaufnahme wird in der sinfonischen Dichtung zu einer dramaturgisch durchdachten Episode. Ein festlicher Tusch, klingelnde Glocken, aufstrebende Streicherläufe und Fanfaren der Hörner und Trompeten eröffnen den Maskenball im Allegro maestoso. Gefüllte Champagnergläser, Walzer und tanzende Paare erscheinen vor dem inneren Auge. Unaufhaltsam scheint der Schwung, mit dem das immer wiederkehrende Motiv aus zwei Takten und chromatisch herab- fallenden Läufen wiederholt wird, doch es kommt zum plötzlichen Halt: Eine gewundene, melancholische, und eine hoffnungsvolle Melodie treffen aufeinander – das Paar, symbolisiert von zwei sehr unterschiedlichen musikalischen Themen. Genauso plötzlich, wie sie erschienen sind, werden sie von der Musik des Maskenballs wieder weggefegt. Im Wirbel des Balls trifft das Paar musikalisch mehrfach aufeinander, die zwei Themen leuchten in den aufstrebenden Streichern, zu denen sich immer mehr Holzbläser dazugesellen. Damit kommt Karłowicz zum Mittelteil seiner sinfonischen Dichtung, in dem wiederholend fallende Sekunden die musikgewordene Sehnsucht daran erinnern, die Aufmerksamkeit der Liebhaberin zu gewinnen. Während zwei Flöten an Prominenz zunehmen und melodisch umeinander wirren und auseinanderstreben, führt Karłowicz zunehmend Drei- klänge ein, darunter den Tritonus, auch »Teufel in der Musik« genannt. Die Themen des Paares werden im Folgenden variiert und erklingen exzerpthaft: Sein Thema gewinnt an Tragik, ihres verschwimmt und verliert seine Konturen in den immer wieder hereinbrechenden Motiven des Maskenballs. Überraschend bricht die Ballstimmung über die Szene herein: Glocken, Fanfaren und Streicherläufe des Anfangs erklingen in voller Lautstärke. Fitelberg folgt mit dieser Reprise des ersten Teils Karłowicz’ Intentionen, das Werk in einer losen Sonatensatzform auszuführen, denn dieser letzte Teil der Komposition war der einzige, den er nicht fertig skizziert hatte.

Spurensuche 2

Die Spurensuche nach – diesmal unter Verschluss liegendem – Material geht weiter: Hans Winterberg wurde 1901 in Prag geboren. Er war kulturell von seinem Heimatland, der Tschechoslowakei, geprägt, sprach Deutsch, stammte aus einer jüdischen Familie und hatte zu diesem Zeitpunkt die österreichische Staatsbürgerschaft. Eine typische Biografie in der bunten Prager Gesellschaft, unter die sich Anfang des 20. Jahrhunderts Rainer Maria Rilke, Franz Kafka, Antonín Dvořák, Bohuslav Martinů und Leoš Janáček mischten. Mit dem Zusammenbruch Österreich-Ungarns 1918 nahm Winterberg die tschechische Staatsbürgerschaft an. Er studierte in Prag: Dirigieren bei Alexander Zemlinsky und Komposition bei Fidelio F. Finke und Alois Hába. 1930 heiratete Winterberg die Pianistin, Komponistin und ehemaliges Wunderkind Maria Maschat aus dem Sudentenland. 1935 bekamen sie eine Tochter namens Ruth. Es entstanden erste Werke wie 1934 die Sinfonie Nr. 1 (Sinfo- nia drammatica), 1935 die Sinfonischen Tänze und 1936 das erste Streichquartett und die erste Klaviersonate. In einem Interview im Deutschen Rundfunk der Tschechoslowakei beschrieb er 1935, inwiefern seine Lebenssituation seine Musiksprache in den Sinfonischen Tänzen beeinflusste:

»Mein ›Symphonischer Tanz‹ ist zu einer Zeit entstanden, wo ich stark verzweifelt war und mich mit Schlagermusik beschäftigen musste. Das Stück selbst stellt sozusagen einen Abschluss und Niederschlag dieser Epoche dar. Es soll quasi Licht und den Schatten des heutigen Lebensrhythmus widerspiegeln.«
Hans Winterberg: Sinfonische Tänze
Komponiert: 1935
Uraufführung in diesem Konzert mit dem Orches-
ter der Komischen Oper Berlin
1938 besetzten die Nationalsozialist:innen die Tschechoslowakei und seine Ehe wurde als »privilegierte Misch-Ehe« eingestuft. Ob Maschats Muttersprache Deutsch und ihre Herkunft aus dem mehrheitlich deutsch- sprachigen Sudetenland den »Privilegierten«-Status auslösten, ist unklar. Dieser Status bewirkte aber, dass Winterberg erst 1945, später als viele andere, ins Ghetto Theresienstadt deportiert wurde. Dadurch entkam er einem Transport ins Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau, wohin seine Komponistenkollegen Viktor Ullmann, Pavel Haas und Hans Krása im Jahr zuvor gemeinsam aus Theresienstadt deportiert und ermordet wurden.

»Nationalität? Ein Rückständiger, verquerer Begriff … «

Nach dem Zweiten Weltkrieg kehrte Winterberg nach Prag zurück und fand heraus, dass Maria Maschat und Ruth aufgrund der Beneš-Dekrete als Sudetendeutsche aus Tschechien vertrieben worden waren und nach Bayern umsiedelten. Da er als Tschechoslowake gemeldet war, suchte er um einen tschechischen Pass an, der ihm während der deutschen Besatzung aberkannt wurde, und erhielt die Erlaubnis, 1947 nach Deutschland zu gehen – um, wie er angab, seine musikalischen Manuskripte von einem Verwandten zurückzuerlangen. Ab diesem Zeitpunkt gab er sich als Zugehöriger der sudeten- deutschen Gemeinschaft aus, denn in der Tschechoslowakei übernahm die Kommunistische Partei unter Klement Gottwald durch einen Umsturz die alleinige Macht, und Winterberg drohte die Deportation zurück in die Tschechoslowakei. Er gewann einen sudetendeutschen Preis und schrieb Werke, die den Titel »sudetendeutsch« trugen. Dass ihm das Dasein als Sudetendeutscher doch noch einen Fallstrick legen sollte, konnte er nicht ahnen. Noch drei weitere Ehen ging Winterberg ein, zuletzt mit Louise Maria Pfeifer, ebenfalls Sudetendeutsche. Sie brachte einen bereits studierenden Sohn namens Christoph in die Ehe ein, den Winterberg adoptierte. Christoph Winterberg erbte den Nachlass mitsamt Partituren seines Adoptivvaters und überließ diese dem Sudetendeutschen Musikinstitut. Der Vertrag sah nicht nur vor, dass die Werke bis zum 31. Dezember 2030 unter Verschluss liegen sollten, sondern auch, dass kein Hinweis auf die jüdische Herkunft des Komponisten fallen durfte. Erst dank der Einflussnahme Peter Kreitmeirs, Winterbergs Enkel, wurde der Nachlass im Jahr 2015 freigegeben.
Porträt Hans Winterberg, Komponist
Hans Winterberg
Winterbergs Musik ist von tschechischer Kultur und ihrer sprachlichen Lautmalerei durchzogen. Polyrhythmen und innere rhythmische Spannungen in seiner Komposition erinnern an Béla Bartók, die Inspiration durch Volkslieder und den Rhythmus der tschechischen Sprache an Leoš Janáček. Alle musikalischen Entwicklungen des Jahrhunderts habe er miterlebt, schrieb er 1967 in einem Brief an den Komponisten Wolfgang Fortner. Er habe im Impressionismus und Expressionismus der 1920er-Jahre zu einer Zeit gearbeitet, als die serielle und atonale Musik Schönbergs zeitgemäß waren. Seit seiner Emigration aus Prag habe er die neuen Entwicklungen in Deutschland verfolgt und sich nach vielen Dekaden in einem persönlichen Stil gefunden, der eine freie Variation der seriellen Musik repräsentiere.

Abrupte musikalische Wendungen und abbrechende Melodien, Polytonalität und Polyrhythmik sowie eine unaufhaltsame Vorwärtsbewegung zeichnen seine oft surreal anmutenden Kompositionen aus und machen Winterberg zum einzigen Repräsentanten einer ganzen Generation tschechischer Komponist:innen, auch wenn er auf einem Tonband sagte: »Was heißt Nationalität? Was ist denn das für ein rückständiger, verquerer Begriff?«

Ein komponierter Lebensweg

Sergei W. Rachmaninows Sinfonische Tänze sind weder eine Sinfonie – keine Sonatenform im ersten oder dritten Satz – noch tanzbare Musik – mehr als entfernte Polka- und Walzerrhythmen sind hier nicht zu holen. Vorgefasste Formeln und Dogmen waren nicht nach seinem Geschmack. »Große Musik ist niemals auf diese Weise produziert worden – und ich wage zu sagen, wird es auch nie. Die Musik eines Komponisten sollte sein Geburtsland ausdrücken, seine Liebesaffären, seine Religion, die Bücher, welche ihn beeinflusst haben, die Bilder, die er liebt. Sie sollte das gesamte Produkt der Erfahrungen des Komponisten sein.« Rachmaninow war 67 Jahre alt, als er die Sinfonischen Tänze – ursprünglich Fantastische Tänze – 1940 komponierte. Auf Long Island entstand dieses persönliche Werk, das sein Leben musikalisch Revue passieren lässt. Er lebte seit dem Ersten Weltkrieg im Exil in den USA, und nach einem Aufenthalt in der Schweiz suchte er dort schließlich Zuflucht vor dem Zweiten Weltkrieg. Aus Rachmaninows letztem Werk spricht die Sehnsucht nach Russland. Obwohl Rachmaninow kurz vor seinem Tod 1943 die amerikanische Staatsbürgerschaft annahm, lernte er nie Englisch – scheinbar musste er das auch nicht, denn er begeisterte schon als phänomenaler Pianist in den Konzertsälen der USA.
Sergei W. Rachmaninow: Sinfonische Tänze op. 45
Komponiert: 1940
Uraufführung: 3. Januar 1941 in Philadelphia

Sinfonische Schnitzeljagd der Zitate

Die drei in Moll-Tonarten stehenden Sätze waren ursprünglich mit den Titeln »Mittag«, »Abenddämmerung« und »Mitternacht« überschrieben und lassen somit Raum für autobiografische Interpretationen. Ein stark akzentuierter Polkarhythmus bestimmt den ersten Satz, Allegro. Drei abwärtsstrebende Töne bilden das Motiv dieses ersten Teils, bevor der lyrische Mittelteil des ersten Satzes mit ungewöhnlicher Instrumentierung auftrumpft: ein Saxophon, inspiriert von der amerikanischen Jazzmusik. Rachmaninows Verfassung lässt sich zu jeglichen Zeitpunkten seines Lebens an der Wahl seines Materials messen, denn er griff oft auf frühere Werke und Melodien zurück. Im ersten Satz der Sinfonischen Tänze nutzt er nicht nur Material aus der Ballettmusik Die Skythen, sondern auch insbesondere Melodien der 1. Sinfonie – eines der letzten Werke seiner jungen Schaffensperiode, dessen durchgefallene Uraufführung 1897 ihn in eine Krise stürzte. Rachmaninow verbindet hier 19. und 20. Jahrhundert. Das Walzertempo des zweiten Satzes, allerdings statt des charakteristischen 3/4-Takts hier im 6/8-Takt, geht in ein träumerisches Thema des Englischhorns über, verliert sich aber nach und nach durch häufige Taktwechsel. Ein valse triste, wie die Spielanweisung lautet. Der Nachhall einer verklungenen Epoche und einer Zeit in Rachmaninows Leben, die im Zeichen der Sorge vor der Oktoberrevolution stand?

Glocken leiten den dritten Satz ein, in dem Rachmaninows Vorliebe für das Thema der gregorianischen Dies-Irae-Sequenz die Komposition beherrscht. Wie ein Memento mori zieht sich dieser Hymnus über das Jüngste Gericht durch Werke wie die 1. Sinfonie, Die Toteninsel und die Rhapsodie über ein Thema von Paganini. Im dritten Satz steigert sich die Dies-Irae-Sequenz unterstützt vom Walzertakt zu einem Danse macabre. Sie mündet in einem Halleluja, wieder ein Eigenzitat, diesmal aus der Ganznächtlichen Vigil (1915), das mit einem einsamen und nachhallenden Gong endet.

Drei mal anders, drei mal gleich

Drei Kompositionen der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts von osteuropäischen und russischen Musikern stehen auf dem Programm. Ihre Lebenswege könnten unterschiedlicher nicht sein. Einer starb zu früh, einer überlebte, einer floh ins Ausland. Alle drei Werke kreisen um den Tanz, lassen die Zuhörer:innen vordergründig in der Schönheit und Festlichkeit schwelgen. Erst beim genauen Hinhören scheint das echte Leben hindurch, denn wenn die Maske fällt, bleibt der Mensch.

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