Ein Prinz, der keiner sein möchte


Regisseurin Nadja Loschky, Dirigentin Marie Jacquot und Dramaturgin Yvonne Gebauer im Gespräch über Könige, Narren und einen Haufen Maden
Wie viel Shakespeare steckt in Ambroise Thomas’ Hamlet? Die Librettisten Michel Carré und Jules Barbier rücken Ophélie in den Vordergrund, streichen dafür andere Figuren und Handlungsstränge aus Shakespeares Tragödie …

Nadja Loschky Eines der genialsten Stücke der Weltliteratur in Libretto-Form zu gießen, ist kein Leichtes. Shakespeare bereitet die Vielschichtigkeit der Welt, ihre Komik und Tragik, die Liebe und die Abgründigkeit in verschiedenen Szenen und Figuren auf. Der Apparat der Grand Opéra kann der Leichtigkeit und Wendigkeit Shakespeares nicht gerecht werden. Dafür komponierte Thomas eine farbenreiche und ebenso vielschichtige Musik, die den Seelenräumen der Figuren eine Bühne bietet.

Yvonne Gebauer Anders als die Musik betont die Operndramaturgie die Handlung und weniger die inneren Vorgänge. Hamlets Problem ist es aber, keine Handlung vollziehen zu können. Das ist sicher das zentrale Manko in der Konstruktion dieses Werks, wenn man sich an der Dimension der Shakespeare-Tragödie orientiert.
Marie Jacquot Etwas Witz beziehungsweise etwas Opéra comique steckt aber trotz düsterer Stimmung auch in dieser Oper, zum Beispiel wenn Hamlet ein Trinklied (»Ô vin, dissipe la tristesse«) anstimmt.

Sie stellen Hamlet die Figur des Narren Yorick zur Seite, der in Shakespeares Vorlage nur noch als Schädel vorkommt. Somit geben Sie Hamlet etwas Komik und Groteske zurück.

Nadja Loschky In der Tragödie hält Hamlet zu Anfang des fünften Akts einen Monolog über den toten Narren Yorick. Hamlet erzählt, dass sie eine große Nähe verbunden habe, dass Yorick ihn oft auf dem Rücken getragen, dass Hamlet oft seine Lippen geküsst habe. Diese Szene ist als ikonographisches Bild Hamlets mit dem Schädel verewigt. Der Narr, der in vielen Stücken Shakespeares eine wichtige Rolle spielt, war uns also als Gegenstimme, Alter Ego und Schatten Hamlets wichtig, aber auch als freie Figur, die keiner Ideologie folgt.
Szene aus Hamlet
»Sein oder Nichtsein?« ist wohl der berühmteste Monolog der Theatergeschichte. Als »Être ou ne pas être« findet er Einzug in den dritten Akt der Oper. Was bedeutet Ihnen dieser Gedanke?

Yvonne Gebauer Wir haben den Satz von »Sein oder Nichtsein?« in den Mittelpunkt gestellt und damit das Innenleben von Hamlet in den Vordergrund gerückt. Wenn man die Subjektivierung der Perspektive in der Inszenierung nicht vornimmt, landet man bei dieser Oper sehr schnell in der Repräsentation der Gesellschaft und der äußeren Wirklichkeit – das hat sehr viel mit der Funktionsweise des Chores zu tun, der gewissermaßen die Faktizität der Geschehnisse absichert und stabilisiert. Diese Art von äußerem Realismus, den auch das Genre der Rachetragödie bedient, hat uns aber nicht interessiert. Wenn man die Figur Hamlet als das Zentrum der Oper und der Erzählung versteht, dann dehnt sich seine Wahrnehmungsweise der Welt auf das Gesamtgeschehen aus und zersetzt geradezu die Wirklichkeit. Hamlets Empfinden hat somit viel mit Thomas Bernhards Satz zu tun, der sagt, dass im Angesicht des Todes alles lächerlich erscheint.

Marie Jacquot Die höfische Musik ist oft mit pompöser Orchesterbesetzung gestaltet, unterstrichen von sehr präsenten Blechbläsern und fanfarenhaften Motiven. Aber es gibt eben auch die brüchige und abwechslungsreiche Musikwelt Hamlets.

Nadja Loschky Man wünscht sich fast eine große und längere Arie »Être ou ne pas être«! Thomas widmet Ophélie einen kompletten Akt und man sucht nach einem Gegenstück für Hamlet. Deshalb haben wir uns dazu entschieden, die Welt durch Hamlets Augen zu zeigen. Er ist »befallen«, und zwar von einem tiefen Gefühl der Leere und des Zerfalls, aber auch umgetrieben vom Wunsch, die marode Welt zu untergraben und eine andere Wahrheit zu enthüllen.

Herman Melvilles Erzählung Bartleby, der Schreiber, deren Protagonist seine Verweigerung beharrlich, doch sanft mit »Ich möchte lieber nicht« ausdrückt, spielte eine Rolle bei der Konzeption Ihrer Inszenierung: Wie hängt sie mit Hamlet zusammen?

Nadja Loschky Hamlet steht im Zentrum eines Geschehens, das ihn zu überrollen scheint. Im Auge seiner Gedankenstürme ist er großem Druck ausgesetzt. Ich glaube, wenn man ihn in Ruhe ließe, würde er ewig darüber nachdenken, ob er Claudius töten soll. Darüber könnte er essen, schlafen und trinken vergessen und würde irgendwann nur noch als Gerippe dasitzen. Eigentlich kommt alles zu Hamlet und nicht umgekehrt. Der Geist seines Vaters sucht ihn auf und fordert ihn zur Rache auf. Später erscheint Claudius und Hamlet belauscht ihn beim Beten, und auch Gertrude geht aus freien Stücken zu Hamlet, um ihm seine Braut zu präsentieren. Die Außenwelt bedrängt ihn, bis hin zur Tötung Claudius’. Wenn er die Wahl hätte, würde Hamlet sich aber zurückziehen, genau wie Bartleby.

Warum ist Hamlet derart erstarrt?

Nadja Loschky Es werden viele Ansprüche an Hamlet gestellt. Als Sohn des toten Vaters, aber auch als Stiefsohn des neuen Vaters, der fordert: Sei mein Sohn und verhalte dich dementsprechend. Die Mutter, die ihn tadelt, seinen neuen Vater verletzt zu haben. Ophélie, die in ihm Halt sucht und den Partner braucht. Der Hofstaat, der das Verhalten eines Prinzen erwartet. Er ist ein Prinz, der keiner sein möchte und dem Gewalttätigkeit zuwider ist.

Yvonne Gebauer In Shakespeares Monolog »Sein oder Nichtsein?« spricht Hamlet von der »angebor’nen Farbe der Entschließung«, die durch »des Gedankens Blässe angekränkelt« ist. Wenn man beginnt nachzudenken, wird man handlungsunfähig. Hamlets Denkweise ist nihilistisch und dadurch bewegt er sich in einem anderen Wertesystem und Kosmos als die höfische Gesellschaft.
Szene aus Hamlet
Das Bühnenbild zeigt einen repräsentativen Raum, der nach und nach mit Erde gefüllt wird.
Nadja Loschky Wir beginnen mit dem Entrée eines Schlosses. Eine höfische Fassade. Durch die Totengräber wird diese scheinbar intakte Welt immer mehr zersetzt, indem sie sie perforieren, zerfallen lassen, mit Erde befüllen. Dadurch wird die Bühne zum Friedhof. Shakespeares Satz »Etwas ist faul im Staate Dänemark« war uns im Zusammenhang mit dem Bühnenbild besonders wichtig. Er stellt die Fäulnis der Welt aus, zeigt, wie verrottet sie ist. Die Menschen in ihr sind wie Maden, die den Zerfall beschleunigen und Hamlet ist der Einzige, der spürt, dass etwas unter der Tapete schlummert, das enttarnt werden muss.

Auch wenn Hamlet in den verschiedensten Varianten – vom naiven jungen Mann bis zum psychisch erkrankten Menschen – interpretiert worden ist, ein zentraler Gedanke ist und bleibt die Frage: Verfällt Hamlet dem Wahnsinn?

Nadja Loschky Hamlet zerbricht an etwas Realem, am Fakt, dass sein Onkel und seine Mutter seinen Vater ermordet haben, eine Liaison eingegangen sind und die höfische Gesellschaft dieses Verbrechen deckt. Daher würde ich sagen, er ist vielmehr hellsichtig als wahnsinnig, denn er ist unfähig, diese Tat einfach zu verdrängen.

Yvonne Gebauer Zumal er auch bei Shakespeare den Wahn spielt.

Nadja Loschky Seine große Emotionsfähigkeit führt ihn durch Verzweiflung, Hass, Wut und Trauer. Er hat also wahnhafte Momente. Man könnte aber auch sagen, dass er eben nicht abgestumpft ist.

Yvonne Gebauer Und man kann es auch simpler formulieren: Hamlet ist eine Person, die vollkommen anders ist als alle anderen. Die meisten haben sich dazu entschieden, sich der Gesellschaft anzupassen, zu funktionieren. Doch dann trifft Hamlet auf jemand anderen, der damit auch ein Problem hat – Ophélie.

Was verbindet Ophélie und Hamlet?

Nadja Loschky Hamlet und Ophélie sind sich sehr ähnlich. Beide fühlen sich entfremdet von der Gesellschaft, die sie umgibt. Sie fühlen sich in der Welt verloren. Sie weigern sich, dem Regelsystem des Hofes blind zu folgen Ophélie flüchtet sich dabei in den Wahn, Hamlet in den eigenen Abgrund. Das Tragische an dieser Ähnlichkeit ist, dass sie sich unter anderen Umständen gegenseitig hätten Halt geben können, doch in dieser verstrickten Situation verfehlen sie sich.

Marie Jacquot Dieses Gefühl, in der Welt verloren zu sein, spiegelt sich bei beiden Figuren musikalisch. Für beide komponierte Thomas charakteristische Motive. Bei Hamlets Racheschwur beispielsweise wiederholt sich die Musik periodisch, wie in einer Art Trauermarsch, der seine Verbindung zu seinem Vater signalisiert. Ophélies Arien hingegen, insbesondere die zweite, haben sehr viele Motive, verschiedene Tempi und einen abwechslungsreichen musikalischen Charakter. Man merkt, wie sehr ihre Gefühle durcheinander irren. In der zweiten Szene der Oper singen sie gemeinsam das Duett »Doute de la lumière«. Ophélie greift diese Musik motivisch im vierten Akt auf, als sie nach und nach dem Wahn verfällt, um zu versuchen, sich selbst zu heilen und vielleicht sogar, um mit ihrem Tod seine Liebe wieder zu erwecken. Auch in der Instrumentierung findet Thomas besondere Klangfarben für beide Figuren: Hamlet verbindet er mit dem Violoncello und Ophélie werden Flöte und Harfe zugeordnet.

Es gibt auch weitere instrumentale Höhepunkte: Zum ersten Mal in der Operngeschichte setzt Thomas das Saxophon ein.

Marie Jacquot Thomas zeichnet sich durch seine transparente und neuartige Orchestrierung aus, trotz seiner Rückgriffe auf altbewährte Formen wie der Grand Opéra. Möglicherweise hat ihn seine Freundschaft zu Adolphe Sax, dem Erfinder des Saxophons, inspiriert. Im zweiten Akt von Hamlet untermalt er mit einem Altsaxophon-Solo die Bankettszene, in der Hamlet Claudius mit einem Schauspiel als Mörder zu entlarven versucht – das Saxophon begleitet also dieses Theater im Theater.

Die traditionsreiche Grand Opéra auf der einen Seite und Neuartiges wie das Drame lyrique auf der anderen Seite – zwischen diesen Opernformen fand Thomas’ Hamlet 1868 zur Uraufführung …

Marie Jacquot Mit fünf Akten, einem ausgedehnten Ballett, üppigen Chorpassagen und großer Orchesterbesetzung entspricht Hamlet zwar den Konventionen der Grand Opéra, mit seiner komprimierten Struktur und Form und geradezu rezitativischen Deklamationsarten erinnert es aber an Thomas’ langjährige Vorliebe für die Opéra comique. Dabei legt er den Fokus auf die Figuren Hamlet und Ophélie, auf ihre Beziehungen und ihr soziales Umfeld. Das war charakteristisch für das Drame lyrique, das zwischen den Gegensätzen von Grand Opéra und Opéra comique liegt.

Die Partitur sieht zwei unterschiedliche Enden vor. Das zuerst komponierte Ende geht auf die Uraufführung 1868 in Paris zurück: Hamlet tötet Claudius und wird selbst zum König ausgerufen. Ein zweites Ende entstand für die Aufführung 1869 in London und sieht Hamlets Tod vor. Warum haben Sie sich für das erste entschieden?

Nadja Loschky Der sogenannte »tragische« Schluss um Claudius’ und Hamlets Tod wird zentralperspektivisch abgehandelt. Das heißt, man erlebt von außen den Tod dieser zwei Figuren und so nimmt die Oper ihr Ende. Damit entspricht dieser vom Original inspirierte Schluss viel weniger der Tragödie Shakespeares als das vermeintliche Happy End aus Paris. Darin überlebt Hamlet zwar und wird König, doch es ist der Weg in die Dunkelheit. Er ergibt sich in die Welt, die die Totengräber aufgetan haben, er verweigert sich der Wirklichkeit nicht mehr und ist auch nicht weiter hin- und hergerissen, sondern geht in den Abgrund hinein.

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