Die Schwer­mut der Mäch­tigen

Regisseur Axel Ranisch und Dirigent David Bates im Gespräch über Familiengeschichten, die Leerstellen im Herzen und die Wichtigkeit, dass jemand an dich glaubt in ihrer Insznierung Saul.
Axel, du bist von Haus aus Filmregisseur. Vor 11 Jahren gelang dir mit deinem Abschlussfilm Dicke Mädchen der Durchbruch. Deine Filme haben oftmals autobiografische Züge, Familie spielt eine wichtige Rolle, und sie handeln im Hier und Jetzt. Nun inszenierst du ein 300 Jahre altes Oratorium von Georg Friedrich Händel? Wie geht das zusammen?

Axel Ranisch Saul ist eine erstaunlich moderne Geschichte, wenn man sich den Familienkosmos ansieht, in dem sie spielt. Es ist eine Geschichte zwischen einem Vater und seinen drei Kindern. Dann kommt David und bringt alles durcheinander. Ich habe auch zwei Schwestern und hatte einen ehrgeizigen Vater. Vieles in diesem Oratorium kommt mir einfach wahnsinnig nah und bekannt vor. Ich fühle mich den beiden Schwestern sehr verbunden, aber auch Saul.

Saul will David töten, verheiratet seine Töchter gegen ihren Wil- len, schickt seinen Sohn Jonathan in die Schlacht und will sich am Ende selbst umbringen …

Axel Ranisch Eigentlich war Saul auch nur ein Mensch, bevor er zum König gewählt wurde. Die Handlung des Stücks beginnt, als er bereits König ist, eine gottähnliche Rolle einnimmt. Im Laufe der Handlung wird er wieder menschlicher und das ist schlimm für ihn. Ich finde das sehr berührend. Ich kann seine Wut und seinen Frust gut nachvollziehen.

David Bates Sauls Verhalten ist wirklich problematisch. Aber ist es nicht auch sehr realistisch? Wir leben in einer Welt und Zeit, in der schlechtes, schwieriges oder antisoziales Verhalten als absolut inakzeptabel gilt. Und wir sind sehr schnell darin, Leute, die dieses Verhalten zeigen, abzuurtei- len. Doch man muss bedenken: Saul ist menschlich, er braucht Hilfe, Führung oder ein Ziel, das ihn erfüllt, um aus diesem Zustand herauszufinden.
Szene aus Saul
Was macht David so attraktiv? Ist dieses Sichabwenden Gottes nicht völlig willkürlich oder kann man nachvollziehen, warum sich das Blatt wendet? Eine Figur wird in diesem Werk oft aus »ökonomischen« Gründen gestrichen. Du hast den Hohepriester bewusst besetzt. Ist er denn so wichtig?

Axel Ranisch Er hat keine Lockmittel mehr, mit denen er das Volk auf seine Seite bekommen kann. Eigentlich will Saul auch geliebt werden und sehnt sich nach Hilfe, aber es gibt keinen Weg mehr, ihm zu helfen.

David Bates Saul hat so viele Menschen von sich gestoßen, dass es schwer ist, um Hilfe zu bitten.

Axel Ranisch Er kommt in ein Stadium purer Aggression, in dem er nicht weiß, wie er die Leerstellen in seinem Herzen füllen soll.

Eine Figur wird in diesem Werk oft aus »ökonomischen« Gründen gestrichen. Du hast den Hohepriester bewusst besetzt. Ist er denn so wichtig?

Axel Ranisch Ja, er ist die Verkörperung des »Gott glaubt an dich«. In dem Moment, wo Gott nicht mehr an Saul glaubt, wendet sich diese Figur von ihm ab und unterstützt ihn nicht mehr. Genau dieses Sichabwenden, dieses Entziehen des Vertrauens löst die Depression in Saul aus. Dies beginnt im kleinen Kreis der Familie und setzt sich im großen Ganzen des Volkes fort. Der Hohepriester, der in Gegenwart von Saul auf einmal anfängt, David zu besingen, er ist der Stachel, den Saul die ganze Zeit im Schuh hat.

Ist dieses Sichabwenden Gottes nicht völlig willkürlich oder kann man nachvollziehen, warum sich das Blatt wendet?

Axel Ranisch Saul beginnt selbst zu entscheiden und folgt nicht mehr blind Gottes Wille. Das ist der Grund! Bevor die Handlung des Oratoriums einsetzt, widersetzt sich Saul Gottes Befehl, wenn er den König der Amale- kiter nicht tötet. Im Laufe des Oratoriums handelt er ein zweites Mal gegen den Willen Gottes und entscheidet sich, David mit Merab zu verheiraten, wo doch offensichtlich ist, dass Michal und David füreinander bestimmt sind.

Und Gott wendet sich als Konsequenz von Saul ab und David zu …

Axel Ranisch In der Geschichte ist auf jeden Fall David die Wurzel von allem. Er ist der Auslöser von Sauls Entscheidungen. Im Endeffekt geht es hier um Eifersucht. Alle wollen mit einem Mal im Glanz Davids stehen.

Was macht David so attraktiv?

Axel Ranisch Seine völlig unreflektierte Selbstgewissheit. Die Sicherheit, dass alles, was er anfasst, das Richtige ist. Eigentlich habe ich Angst um ihn. Er ist durchgängig verständnisvoll und selbstbewusst. Erst am Ende, in der Szene, in der er den feindlichen Amalekiter erbarmungslos absticht, kommt heraus, dass auch in David ein Monster steckt. Wir sehen, wie Saul mit der Zeit immer schwermütiger wird. Eine Depression, ausgelöst durch seine Macht. Auch David wird depressiver, je mehr er die Bürde dieser Macht tragen muss.
Szene aus Saul
Händel schrieb Saul im frühen 18. Jahrhundert, noch bevor sich Kunst und Musik verstärkt dem menschlichen Innenleben und seiner Entwicklung zuwandten. Finden sich dennoch Hinweise für diese Figurenpsychologie in der Musik?

David Bates Händel nutzt in Saul spezifische Klangfarben, um die einzelnen Charaktere plastisch zu machen. Das passiert in der Oper jener Zeit gar nicht so häufig. Händel schrieb das Werk am Ende einer Ära, als die Opera seria gerade aus der Mode kam. Also experimentierte er. Bevor sie sich von ihrem Vater abwendet, singt die älteste Tochter Merab über Saul:

»His Temper knows no middle State (Er kann seine Launen nicht mäßigen.)« und wiederholt das geradezu obsessiv.

Eine kleine Tonfolge, die sich immer und immer wieder im Kreis dreht. Sie wirkt dadurch wie eine fixe Idee, ein Leitmotiv, das sich dem Publikum als ein psychologischer Zustand vermittelt, der irgendwie »stecken geblieben« ist.

Axel Ranisch Ich habe das Gefühl, dass keiner der Charaktere am Ende noch so ist, wie am Anfang.

David Bates Das stimmt. Davids seelische Tiefe zeigt sich zwar schon früh, so in der Air »O Lord, whose Mercies numberless (O Herr, des Güte endlos ist)«, die eine geradezu engelhafte Seite von ihm zeigt. Mit fortschreitender Handlung aber wird David auch musikalisch zunehmend heroischer und stärker. »Impious Wretch, of Race accurst (Elender, im Stamm verflucht)«, das ist schon ziemlich furios …

Axel Ranisch David zeigt uns da seine Schattenseite.

David Bates Das zeigt sich auch in der Wahl der Tonarten. Während Davids erste Arie in F-Dur arkadische Offenheit und Freigeistigkeit, einfach die Leichtigkeit des Seins spürbar macht, geht er zum Ende in den »Schlacht-Modus« in der Kriegs-Tonart D-Dur.

Am Ende besingen der Chor und David die Besonderheit der Liebe Jonathans. Eine außergewöhnliche Liebeserklärung an die Liebe zweier Männer.

Axel Ranisch Es gibt viele Gemälde und Werke über David und Jonathan. Das ist wirklich wichtig für die Queer community, und auch ich finde es wichtig, dass diese Liebe, der Kuss, das Bekenntnis der Liebe, die sie füreinander fühlen, die ihre Liebe zu Frauen übertrifft, bereits in der Bibel steht. Gleichzeitig finde ich den Gedanken schön, dass es hier einfach nur ganz grundsätzlich um Liebe geht. Die Sexualität ist hier eigentlich egal. Es geht nicht um Homosexualität oder Heterosexualität, es geht einfach um Liebe.


David Bates Ich denke, auf einer theologischen Ebene geht es um eine von Gott gesegnete Liebe, »Agape«, wie sie im Neuen Testament heißt. Das ist wichtig. Dieses Stück ist augesprochen harmonisch gesetzt. Die Liebe ist also nicht nur von Gott, sondern auch von der Musik gesegnet.
Szene aus Saul
Zurück zu den harten Fakten: Wie viel Tagesaktualität steckt in einem Stück, das fast 300 Jahre alt ist und mit einem Stoff arbeitet, der über 2000 Jahre alt ist?

Axel Ranisch Ich war schockiert, als ich herausfand, dass die Philister:in- nen Vorfahren der Palästinenser:innen sind. Der in Saul verhandelte Krieg ist also Tausende von Jahren alt und steht schon im Alten Testament. Man bekommt das Gefühl, er wird niemals aufhören. Daher stammt auch die Bühnenbildidee eines riesigen Kopfes im Zentrum des Geschehens, die Bühnenbildner Falko Herold und ich hatten. Das Haupt des besiegten riesenhaften Gegners verrottet Stück für Stück, wird zu Humus. Und auf dem Humus dieses toten Goliaths werden dann immer neue Kriege geführt. Besonders in den Zeiten, in denen wir leben, konnte ich mir nicht vorstellen, dieses Stück mit 25 Minuten Lobgesang zu beenden, egal wie schön das ist. Der biblische David verliert später – wie vor ihm Saul – seinen Sohn. Für mich steckt in Saul zuletzt auch die Reflexion über all die geführten Kriege und wohin sie führen – oder ob sie überhaupt irgendwo hinführen.

David Bates Das Einzige, was hilft, ist Musik. Und so wie David Trost in der Musik findet, versuchte er dereinst Saul mit seiner Musik zu trösten.

Das heißt, jenseits der Aufs und Abs, im Grunde bleibt alles gleich. Das Rad der Geschichte dreht sich weiter? Keine Hoffnung auf Besserung?

Axel Ranisch Für mich ist das letzte Bild dieser Ausblick. Ein Ausblick in Davids Zukunft. Das könnte der Moment sein, in dem er reflektiert und aufhört. Ich würde das Stück gerne mit diesem Ausblick auf die Möglich- keit der Besserung beenden. Ja, ich möchte ein hoffnungsvolles Ende.

Mehr dazu

29. Mai 2023
»Eine schöne Idee, dem großartigen Aryeh Nussbaum Cohen nach dem Schlusschor noch ein Lied von Herbert Howells anzuvertrauen... Es zeigt Cohen als einen Altus von einzigartigem Schmelz... Rupert Charlesworths Tenorstimme verbindet Klarheit und Unbedingtheit zu einer sprechenden vokalen Geste. Ebenso leuchtet aus Nadja Mchantafs Sopran die reine und einfache Zuneigung der Michal zu David... Dazu kommt ein fantastisch wendiger, klein besetzter, aber wunderbar präsenter Chor, den David Cavelius im Sinne bester britischer Chöre einstudiert hat. Seine Leistung im letzten Bild mit einzeln verlöschenden Einsätzen, der ergreifenden Klage und dem Aufschwung zum Jubelchor formt eine der eindrucksvollsten Chorszenen, die man in den letzten Jahren in Berliner Opernhäusern hören konnte.«
Händels »Saul«: Eine der eindrucksvollsten Chorszenen der letzten Jahre
Peter Uehling, Berliner Zeitung
#KOBSaul
28. Mai 2023

»Ranisch erzählt die Geschichte erfrischend neu ... am Ende stürmischer Beifall für alle. Für Dirigent David Bates und sein furioses Orchester. Beifall für den Chor und die allesamt stimmgewaltigen Solisten. Beifall auch für den Regisseur, der künftig weiter am Haus arbeiten wird. Ein Riesen-Erfolg, um in der Bildsprache zu bleiben.«
Komische Oper: Vor dem Umzug noch ein Highlight — mit »Saul«
Peter Zander, Berliner Morgenpost
#KOBSaul