Glücksrausch mit Dissonanzen

Ein Gespräch mit Generalmusikdirektor James Gaffigan über Richard Strauss’ Brillanz und Salomes Ekstasen

Ich möchte dich am Anfang mit ein paar Zitaten konfrontieren. Zuerst mit einem von Strauss’ Komponistenkollegen Max Reger: »Übrigens hab’ ich Salome von Strauss mir letzthin genau angesehen! Dieses Werk ist der musikalische Bankrott von Strauss; es soll ja berauschend, nervenzerrüttend klingen – also Farbe, nichts als Farbe –, die musikalischen Qualitäten sind unter aller Kanone; es ist da nicht ein Motiv, nicht ein Gedanke, der was taugte; das Hauptliebesmotiv ist entsetzlich in seiner Banalität; NB. eine notengetreue Reminiszenz des ›er küsste sie‹ aus ›Tom der Reimer‹ von Loewe! [Carl Loewes Ballade ›Tom der Reimer‹ war bis tief ins 20. Jahrhundert hinein ungemein populär.] Du siehst also daraus die musikalische ›Höhe‹ dieser neuesten Sensation!« Bist du einverstanden?

James Gaffigan: (lacht) Vielleicht hat Reger ja in einer Hinsicht sogar recht, aber in jeder anderen Hinsicht liegt er einfach völlig falsch. Worin er recht hat, ist, dass es in Salome sehr simple Motive gibt, und manche von ihnen erinnern an bestimmte Lieder, an einfache Weisen oder andere einfache Dinge, die zu unserer musikalischen Umgangssprache aus der Vergangenheit gehören und zu denen wir einen Bezug haben. Daher kommen uns einige kleine Motivzellen in Salome so bekannt vor. Allerdings – und das ist das, was Reger nicht sehen will – setzt Strauss diese Motive in sehr komplexe orchestrale Texturen. Nicht zuletzt das macht doch die Brillanz des Strauss’schen Komponierens aus: einfache sangbare Motive, die sich in sehr komplexen harmonischen Dimensionen bewegen. Ich bin mir sicher, dass Strauss genau wusste, was er tat, als er diese simplen Leitmotive erfand, welche von Wut und Irrsinn über Liebe bis hin zum Tod ja alles darzustellen vermögen, und welche auch die Charaktere der Figuren definieren. Es gibt ja auch einen guten Grund dafür, dass diese Oper so oft aufgeführt wird. Denn sie führt uns wie kein anderes jemals geschriebenes Werk in ein vorher unentdecktes Universum aus Klang und Farbe, in dem wir aber eben auch etwas Vertrautes vorfinden. Salome ist eine fremdartige Landschaft mit sehr einfachen musikalischen Gesten.

Salome


Musikdrama in einem Aufzug [1905]

Libretto vom Komponisten
nach Oscar Wildes gleichnamiger Dichtung in deutscher Übersetzung von Hedwig Lachmann
Premiere am 22. November 2025
Der Strauss-Biograph Ernst Krause schrieb in Bezug auf Salome von »auf weite Strecken Musik gewordener Hysterie«. Der legendäre Pianist Glenn Gould wiederum sagte mal von Strauss’ Musik, ihr wohne eine »ständige überschüssige Ekstase« inne. Wo würdest du dich da einordnen auf der Skala von »Hysterie« bis Ekstase?

James Gaffigan: Ich halte »Hysterie« und Ekstase für zwei ziemlich gute Wörter, um Strauss’ Salome-Musik zu beschreiben. Ein Wort, das fehlt, ist Irrsinn. Diese Musik erreicht meiner Ansicht nach den höchsten Level an »Hysterie« und Ekstase, und wenn sie überhaupt je übertroffen wurde, dann vielleicht von einem Komponisten wie Alexander Skrjabin in seinen großen Orchesterpoemen. Wobei Skrjabin es möglicherweise auch übertreibt im Vergleich mit der sozusagen besser begründeten, irdischeren »Hysterie« und Ekstase in Salome. Jedenfalls geht die Art und Weise, wie Strauss in einigen Passagen Sehnsucht und Verlangen darstellt, weit über etwa die Musik Puccinis hinaus, und wohl sogar über die Richard Wagners. Im Grunde kann sich ja niemand wirklich mit Salomes Verlangen und Begierde verbinden, das ist Verlangen und Begierde wie aus einer anderen Welt. Ich zumindest kenne keinen Menschen, der in Salomes Situation fordern würde, was sie fordert. Also ja: Strauss erschließt neue Dimensionen von Ekstase, »Hysterie« und Irrsinn.
Anlässlich der Erstaufführung an der Met im Jahr 1907 schrieb der New Yorker Musikkritiker Richard Aldrich: »Die Partitur der Salome ist ohne Frage die mit Abstand schwierigste, die je geschrieben wurde, die komplexeste, die zudem die höchsten Anforderungen an jeden einzelnen Musiker stellt.« Wie würdest du das heute sehen? In welcher Hinsicht ist Salome ein schwieriges Stück?

James Gaffigan: Salome ist tatsächlich noch immer eines der schwierigsten Stücke, die man spielen kann. Wahrscheinlich würden die allermeisten Orchestermusiker:innen zustimmen, dass Salome und Elektra zu den herausforderndsten Orchesterpartituren gehören, schwieriger noch als zum Beispiel Wozzeck oder Lulu von Alban Berg. Auf der anderen Seite lässt es sich kaum bestreiten, dass es extrem befriedigend ist, sich mit dieser Musik zu beschäftigen. Und leider würde etwa bei Lulu dieses Votum nicht so einhellig ausfallen. Weil Salome auch handwerklich so unglaublich gut gemacht ist und weil sie sich ihr revolutionäres Potential in vielerlei Hinsicht bewahrt hat, bleibt diese Partitur eine immerwährende Herausforderung, die aber zu hundert Prozent lohnt. Wenn man den Anweisungen von Strauss folgt – und es sind peinlich genau notierte und akribische Anweisungen –, wenn man also die Teile dieses komplizierten Puzzles zusammensetzt, dann wird die Partitur auf eine Weise lebendig wie ein Gemälde von Monet, bei dem man in der Nähe nur wirre Pinselstriche sieht, aus der Entfernung aber wird das Bild so scharf wie eine Fotografie – oder noch schärfer. Wenn gute Sänger:innen auf der Bühne stehen und gute Musiker:innen im Orchestergraben sind, dann springt diese Musik auf eine geradezu wundersame Weise von der Notenseite in die klangliche Realität. Insofern: Die Musik ist schwierig, ja. Aber eben auch äußerst dankbar.

Strauss benutzt in Salome wie Richard Wagner ausgiebig Leitmotive. Siehst du in der Art, wie er diese Leitmotive nutzt, eher Gemeinsamkeiten oder eher Unterschiede zu Wagner?

James Gaffigan: Es gibt sicherlich viele Gemeinsamkeiten. Insgesamt neigen die Leitmotive Wagners vielleicht dazu, elaborierter zu sein oder längere Themen zu bilden. Bei Strauss hingegen überwiegen – übrigens ähnlich wie bei Beethoven – Motive en miniature, Keimzellen, Motive oder rhythmische Figuren aus vier oder fünf Tönen. Und mit diesen kurzen Keimzellen legt Strauss im Unterbewusstsein der Hörer:innen eine Saat an, die sich dann ähnlich dem Denkprozess eines Individuums entfaltet. Auch wenn die Hörer:innen keine Musiker:innen sind, erkennen sie dadurch in den einzelnen Szenen plötzlich Vertrautes, sie erinnern sich an etwas zurück oder ahnen etwas voraus.
Der Regisseur Evgeny Titov hat einmal gesagt, dass Salome in der Schlussszene glücklich sei. Wie empfindest du diese Musik? Ist es glückliche Musik?

James Gaffigan: Ich würde Evgeny Titov da schon zustimmen: Salome ist wahnhaft glücklich, überglücklich gewissermaßen. Das Unglaubliche in der Musik an dieser Stelle sind auf der einen Seite die Dur-Akkorde, die mit Salomes Glückszustand assoziiert werden können, auf der anderen Seite aber die vielen Dissonanzen, die diese Dur-Akkorde überlagern. Während Salome also in den letzten Momenten der Oper absolute Seligkeit genießt, repräsentieren die Dissonanzen gewissermaßen die Menschen, die dieser Szene zusehen und ihre grausame Realität begreifen. Und das ist wirklich erschreckend: Es klingt wie ein Moment überwältigenden Triumphs, der in einen Lichthof von Dissonanzen eingehüllt ist. Als Zuhörer weiß man nicht, ob man sich mit der Musik Salomes Glücksrausch überlassen oder, ebenfalls mit der Musik, gegen ihn ankämpfen soll. Das erinnert mich an Romane, in denen man mit einer Figur mitfühlt, von der man weiß, dass sie alles andere als eine gute Person ist. Man ist hin- und hergerissen, man fühlt mit und weiß zugleich nicht, ob man eigentlich mitfühlen darf. Mit Salome begibt man sich auf genau so eine Reise. Ob man auf sie gehen will, ist eine andere Sache. Aber wer sie antritt, wird keinesfalls kalt gelassen.

Dezember 2025

https://www.komische-oper-berlin.de/ Komische Oper Berlin Bismarckstraße 110, 10625 Berlin
So
7.
Dez
18:00
Richard Strauss
Schillertheater – Großer Saal
https://www.komische-oper-berlin.de/ Komische Oper Berlin Bismarckstraße 110, 10625 Berlin
Fr
12.
Dez
19:00
Richard Strauss
Schillertheater – Großer Saal
https://www.komische-oper-berlin.de/ Komische Oper Berlin Bismarckstraße 110, 10625 Berlin
Do
18.
Dez
19:00
Richard Strauss
Schillertheater – Großer Saal

Januar 2026

#KOBSalome

23. November 2025
Generalmusikdirektor James Gaffigan spitzt den Klang mit dem Orchester der Komischen Oper... zu. Von den aufsteigenden Klarinetten des ersten Takts an flirrt und gleißt es – mit einem klaren Akzent auf Blech und Schlagwerk. Hörner, Trompeten, Posaunen und Tuben klingen hier schmeichelnd sämig, dann wieder schneidend brutal… Aber die zentralen Momente erblühen plastisch und klar oder knallen einem beeindruckend um die Ohren – und erzählen so von einer Gewalt, die auf der Bühne mit teils drastischen Bildern Wirklichkeit wird.
Georg Kasch, Berliner Morgenpost, 23.11.2025
Salome-Premiere: Ein blutiger Traum zwischen Liebe und Wahnsinn

#KOBSalome
23. November 2025
Ein bestürzender und hochspannender »Salome«-Abend: Regisseur Evgeny Titov lässt die grandiose Nicole Chevalier ohne Kopf auftreten. Generalmusikdirektor James Gaffigan setzt auf eine glanzvoll rauschende und raunende Klangtextur der revolutionären Partitur.
Roland Dippel, concerti, 23.11.2025
Kahlschlag aus Liebe

#KOBSalome
23. November 2025
Titovs Personenführung ist brillant: Weil sie sich im Klangfluss der Partitur bewegen dürfen, weil jede Geste aus dem musikalischen Impuls entwickelt wird, können die Sänger zu Schauspielern werden, auf eine Art, wie man es selten sieht...

Was für eine exzellente Künstlergemeinschaft hier zusammenkommt. Günter Papendell untermauert erneut seine Stellung als Star des Ensembles... Angemessen geifernd und grellstimmig gerät Matthias Wohlbrecht der Herodes, zur auratischen Erscheinung macht Karolina Gumos Herodias... Agustín Gómez’ Narraboth verschmachtet sich berührend nach Salome, eindringlich warnt Susan Zarrabis Page vor dem drohenden Unheil. Wie Nicole Chevalier die mörderische Titelpartie unter ihrer weißen Schutzhaube bewältigt, nötigt Respekt ab, wie sie es schafft, der Gesichtslosen dennoch ein Profil zu verleihen, brillant in der Bewegungs-Choreografie, mit enormem musikalischem Ausdrucksspektrum.
Frederik Hanssen, Der Tagesspiegel, 23.11.2025
»Salome« feiert Premiere: Brillante Personenregie und Orchesterwucht an der Komischen Oper Berlin

#KOBSalome