Walzertraumfabrik

Brettl, das die Welt bedeutet
Fritzi Massary war eine Frau, die wusste, was sie wollte – und wie sie es bekam. Ihre Stimme war nicht groß, aber ihr Ausdruck war einzigartig. Sie war Diva, Ikone und moderne Frau zugleich. Die größten Komponisten der Zeit schrieben für sie. Oscar Straus schuf Der letzte Walzer – ein Erfolg. Mit Eine Frau, die weiß, was sie will! schrieb er ihr ein Denkmal. Mit Witz, Stil und unverwechselbarer Ausstrahlung stieg sie zur gefeierten Operettendiva der 1920er Jahre auf und eroberte das Berliner Metropol-Theater im Sturm. 1932 kam das jähe Ende ihrer Erfolge: Als Jüdin wurde sie zur Zielscheibe. Hetzparolen im Parkett. Drohungen am Bühneneingang. Fritzi Massary verließ Deutschland und die Bühne. Geblieben ist ihr Vermächtnis und ihr Geist – als Schutzengel der Komischen Oper Berlins.

Eine Einführung von Pavel B. Jiracek
Im einem kleinen Theater am Rande des Berliner Alexanderplatzes trat am 18. Januar 1901 ein hochgewachsener Mann im blauen Frack vor den Vorhang und begrüßte sein Publikum zu einer Vorstellung, die Theatergeschichte schreiben sollte: Autor, Impresario und Lebemann Ernst von Wolzogen eröffnete an diesem Abend sein »Buntes Theater« – eine Bühne, die antrat, das gewöhnliche Kabarett (auch Brettl genannt) zum »Überbrettl« zu erheben. Denn nichts Geringeres hatte der Baron sich zum Ziel gesetzt als die Geburt einer neuen Kunst aus dem Geiste des Tingeltangel, deren Philosophie er folgendermaßen in Worte fasste: »Wir wollen die nackte Lust am Schönen, den Humor, der die Welt am Ohr nimmt, die Phantasie, die mit den Sternen jongliert und auf des Weltgeistes Schnurrbart-Enden Seil tanzt! Wir werden eine neue Kultur herbeitanzen. Wir werden den Übermenschen auf dem Brettl gebären! Wir werden diese alberne Welt umschmeißen!« Die Referenz an Friedrich Nietzsches Bild des Übermenschen, dem sich auch die Bezeichnung Überbrettl entlehnt, war durchaus ironisch zu verstehen – doch mit der Gründung einer neuen Kunstform (bezugnehmend auf das legendäre Pariser Kabarett-Varieté »Le Chat Noir« in Montmartre) war es von Wolzogen Ernst. Zu diesem Zwecke hatte er ein buntes Häuflein an Theaterverrückten um sich gescharrt, darunter Schauspieler, Diseusen und Pantomimen. Mittendrin: ein junger Komponist, der den Kapellmeisterposten der Truppe übernahm, nachdem es von Wolzogen vergeblich versucht hatte, Richard Strauss und Engelbert Humperdinck für diesen Posten zu gewinnen. Dieser junge Kapellmeister hieß Oscar Straus, kam aus einer jüdischen Familie aus Wien und hatte sich erste Sporen als Kapellmeister in Brünn, Teplitz, Hamburg und Mainz verdient, nachdem er drei Jahre lang bei Max Bruch in Berlin Komposition studiert hatte. Von durchschlagendem Erfolg waren bislang weder seine Dirigenten – noch seine Komponistenkarriere gekrönt gewesen, doch besaß er ein unerhörtes Talent für schmissige Melodien, welches ihm als Jungspund in Wien sogar Walzerkönig Johann Strauss attestiert hatte: »Geben’S Ihnen net ab mit schweren Symphonien, schreiben’S lieber Walzer, dazu haben’S wirklich Talent«.

Eine Frau, die weiß, was sie will!

20 Figuren – 2 Darsteller:innen

Musikalische Komödie in zwei Akten von Oscar Straus [1932]
Text von Alfred Grünwald nach Louis Verneuil
Dieses Talent sollte mit der Eröffnung des Überbrettl-Kabaretts im Januar 1901 schlagartig einer breiten Öffentlichkeit bekannt werden: Von Wolzogen landete an diesem Abend einen Sensationserfolg. Wie ein Lauffeuer verbreitete sich die Nachricht, dass Berlin um eine neue Attraktion reicher geworden war, und schon bald wurden die Straus’schen Überbrettl-Chansons in sämtlichen Gassen der Stadt gepfiffen. So groß war der Erfolg, dass sich rasch eine lebhafte Theaterszene gründete, die einzig davon lebte, das Überbrettl zu parodieren. Nach einem Gastspiel am Wiener Carltheater im Mai 1901 wurde das Überbrettl gar in der Donaumetropole persifliert – an einem Theater im Prater, das ein Programm unter dem Titel »Unterbrettl« anbot. Mit ihrer Überbrettl-Parodie »Der G’spritzte mit Gieß« erregte dort eine junge Sängerin namens Fräulein Friederike Massarik erstmals die Aufmerksamkeit der örtlichen Presse und legte damit den Grundstein ihres späteren Erfolgs. Bald sollte sie unter dem Künstlernamen Fritzi Massary Weltkarriere machen.
Ebenfalls während des Überbrettl-Gastspiels in Wien stieß ein Komponist namens Arnold Schönberg zur Wolzogen-Truppe, der sich mit einer Komposition mit dem Titel »Rechts Luischen, links Marie und voran die Medici« empfohlen hatte. Doch so schnell sich der Aufstieg des Überbrettls gestaltet hatte, so rasant war auch sein Abstieg. Bereits 1902, ein Jahr nach der Gründung des »Bunten Theaters«, gingen seine Lichter wieder aus – befördert nicht nur durch den Umzug aus dem Theater am Alexanderplatz in eine weit weniger zentral gelegene Spielstätte in Berlin-Kreuzberg, sondern wohl auch durch persönliche Animositäten, die sich dadurch zuspitzten, dass Überbrettl-Diva Bozena Bradsky zum Unmut des eifersüchtigen Wolzogens die zeitweilige Geliebte von Oscar Straus wurde.
Nachdem sich die Wege von Baron Wolzogen und Straus getrennt hatten, tourte Oscar Straus mit den Überbleibseln der Überbrettl-Compagnie durch Deutschland – mit mäßigem Erfolg. Die Berliner Zeitung krittelte nach einer Aufführung: »Alle Achtung vor dem Talent der gebliebenen Überbrettler, aber Musik zu machen haben sie nie verstanden. Herr Oscar Straus aber macht Musik, wirkliche, echte Musik. Herr Straus gehe – mag auch Bozena weinen – aus dem Lager der Bohème in das der Musikanten.« Der Rat wurde beherzigt: Oscar Straus wandte sich an den Autor und Rechtsanwalt Dr. Fritz Oliven, der unter dem Pseudonym Rideamus einige der erfolgreichsten Texte für das Überbrettl verfasst hatte, mit dem ambitionierten Ansinnen, unter der Maxime »Zurück zu Offenbach« gemeinsam die Operette zu reformieren. Hatte Jacques Offenbach seinerzeit das Paris des 2. Kaiserreichs als Antikentravestie verschleiert (etwa in Orpheus in der Unterwelt und Die schöne Helena), so kleideten Straus und Rideamus das Berlin Kaiser Wilhelms nun in das Gewand eines germanischen Heldenliedes: Die lustigen Nibelungen wurde zu einer ebenso modernen wie geistreich-humorvollen Offenbachiade, die schonungslos den germanischen Heldenkult aufs Korn nimmt und bei ihrer Uraufführung am Wiener Carltheater einen großen Erfolg einfuhr. Mit Hugdietrichs Brautfahrt (1905, Text: Rideamus) setzte Straus seine Reformbemühungen um die Operette fort, musste jedoch zunehmend mit Gegenwind kämpfen: Zum einen kam es 1906 im Rahmen einer Aufführung der Lustigen Nibelungen in Graz zu antisemitischen Demonstrationen gegen das Stück, wegen »Verhöhnung des edlen Germanentums durch einen Saujuden«, zum anderen kam am Theater an der Wien im Dezember 1905 ein Werk zur Uraufführung, das als Hoffnungsträger der Operette gefeiert wurde und seinem Komponisten das Attribut »neuer Walzerkönig« eingebracht hatte: Die lustige Witwe von Franz Lehár.
Straus begriff schnell, dass seine Musik um eine gewisse Walzerseligkeit wohl kaum herumkommen würde, wenn er in seiner alten, neuen Heimat Wien reüssieren wollte – und er handelte prompt. Bereits 1907 präsentierte er am Wiener Carltheater die Operette Ein Walzertraum und landete damit einen Volltreffer. Bis 1909 sollte es allein in Wien über 500 (!) Vorstellungen vom Walzertraum geben, parallel dazu wurde das Werk u. a. in Paris, London und New York nachgespielt – ein Publikumserfolg, der selbst den der Lustigen Witwe in den Schatten stellte. Doch mischten sich alsbald auch kritische Stimmen in den allgemeinen Jubel. In der Presse hieß es: »So hat uns also, die wir für die Hebung des literarischen und ethischen Wertes der Operette rücksichtslos mitzukämpfen gelobten, Oscar Straus verlassen!
Irgendeiner, der es mit Straus ›gut meint‹, hat ihm den Rat gegeben, auch einmal eine Wiener Operette zu komponieren. Der Teufel hole solche guten Freunde!« Kritik hin oder her: Oscar Straus hatte sich als legitimer Erbe von Johann Strauss in Stellung gebracht und war endlich im Establishment der Walzerhochburg Wien angekommen. Selbst an der Wiener Staatsoper hielt seine Musik bald Einzug (in Form des Balletts Prinzessin von Tragant, 1912) – der Ritterschlag für einen Wiener Komponisten.
Der Ausbruch des 1. Weltkriegs 1914 bedeutete politisch zwar einen fundamentalen Einschnitt, der allgemeinen Operettenbegeisterung tat er keinen nennenswerten Abbruch. Im Gegenteil: Das Bedürfnis nach Unterhaltung stieg mehr denn je. Doch spätestens mit dem Fall der Habsburgermonarchie 1918 und dem einhergehenden Bedeutungsverlust der österreichischen Metropole, begann sich das Gravitationszentrum der Operette langsam in die Richtung der quirligen Hauptstadt der jungen Weimarer Republik zu verschieben. So dauerte es nicht lange, bis auch Oscar Straus den Weg zurück in die Stadt fand, in der seine Karriere einst ihren Ausgang genommen hatte. Jedoch war das Umfeld an der Spree selbst für einen gestandenen Komponisten wie Straus rau: »Man wird hier nicht verhätschelt, man hat immer wieder Mühe, sich durchzusetzen, niemand hat in Berlin ein Privilegium auf Erfolge.« Oscar Straus sollte Recht behalten und seine Berliner Produktionen in dieser Zeit lediglich Achtungserfolge bleiben – bis zu jenem rauschenden Erfolg am 12. Februar 1920, als seine Operette Der letzte Walzer im Berliner Theater an der Charlottenstraße uraufgeführt wurde, in einer Fassung, die er auf Wunsch der Hauptdarstellerin speziell für diese angefertigt hatte: Fritzi Massary.
Das Fräulein Friederike Massarik, das fast 20 Jahre zuvor beim Wiener Unterbrettl aufgefallen war, hatte sich als Fritzi Massary in der Zwischenzeit zu einem der gefeiertsten Bühnenstars in der deutschen Hauptstadt hochgearbeitet – ein beispielloser Aufstieg, der 1899 im zarten Alter von 16 Jahren seinen äußerst bescheidenen Anfang genommen hatte, als die Wiener Pflanze als Choristin eines österreichischen Gastspieltheaters durch das zaristische Russland tingelte. Nach Stationen in Hamburg und Linz, wo sie nicht nur in Operetten, sondern u. a. auch als Sandmännchen in Engelbert Humperdincks Hänsel und Gretel auftrat, landete Friederike Massarik schließlich in Danzers Orphium, besagtem Pratertheater mit Unterbrettl-Programm. Es waren harte Lehrjahre, auch aufgrund persönlicher Umstände: Blutjung wurde sie schwanger und vom aristokratischen Vater ihrer Tochter sitzen gelassen – sicher nicht die einzige Parallele zwischen ihr und Manon Cavallini, der Titelheldin in Eine Frau, die weiß, was sie will!
Fritzi Massary, 1912
Auf Empfehlung Gabor Steiners, des Direktors von Danzers Orphium, gelangte Friederike Massarik schließlich – nun als Fritzi Massary – 1904 an das Berliner Metropol-Theater in der Behrenstraße (die heutige Komische Oper Berlin) und damit an einen der beliebtesten Hot Spots im Berlin des frühen 20. Jahrhunderts. Unter Theaterdirektor Richard Schultz entwickelte sich ab 1904 das für das Metropol-Theater prägende Format der »Jahres-Revuen«, bei denen die wichtigsten Ereignisse des vergangenen Jahres als musikalisch-szenisches Spektakel dargeboten wurden. Massary arbeitete sich am Metropol-Theater langsam zum Star hoch, doch der große Durchbruch gelang ihr erst mit der Revue Hurra! Wir leben noch! (1910, Musik von Victor Hollaender). In dieser Revue wurde u. a. an den Halleyschen Kometen erinnert, der im zurückliegenden Jahr der Erde bedrohlich nahe gekommen war und Weltuntergangsstimmung verbreitet hatte. Fritzi hatte einen Auftritt als heiter-frivole »Bummelpuppe« und sang ihr Couplet als »Glaubensbekenntnis der Lebewelt von Berlin« (Otto Scheidereit). Der Schriftsteller Edmund Edel schreibt später über die rauschende Premierenfeier: »Die Massary hält Cour im Trocadero, und tausend Glückwünsche legen sich ihr zu Füßen.«
Ihren großen Erfolg nutzte die Massary, um das Metropol-Theater – an dem sie oft im Schatten von Kolleginnen wie Edith Whitney, Betty Darmand und Madge Lessing gestanden hatte – zu verlassen und 1911 zu Max Reinhardt ans Künstler-Theater in München zu gehen. Dieser leitete dort Operetten-Festspiele, bei denen die Massary unter dem Dirigat des Komponisten Alexander von Zemlinsky u. a. die Titelpartie in Offenbachs Die schöne Helena sang. Ihr Partner auf der Bühne in der Rolle von Helenas Ehemann Menelaus war Max Pallenberg – »ein Teufel, ein entgleister Gott, ein großer Künstler« (Kurt Tucholsky) und ein »kraftvolles Stück Pöbel« (Alfred Kerr). Anders als die Helena in Offenbachs Operette war die Massary so gar nicht gelangweilt von diesem Menelaus: Massary und Pallenberg wurden ein Power-Duo nicht nur auf der Bühne, sondern (bis zum Tode Pallenbergs bei einem Flugzeugabsturz 1934) auch im Leben und spornten sich in ihren Karrieren gegenseitig zu Höchstformen an. Immer unbeirrter begann die Massary in dieser Zeit, ihre Ziele zu verfolgen. Mit neuem Selbstbewusstsein kehrte sie 1914/15 an das Metropol-Theater zurück – und sang dort fortan nur Hauptrollen (etwa in Leo Falls Die Kaiserin und Rose von Stambul, Jacques Offenbachs Großherzogin von Gerolstein und Emmerich Kálmáns Csárdásfürstin).Sie erkannte ihren Wert und wusste, was sie wollte: Sie wollte im Mittelpunkt stehen.
1919 kehrte Fritzi Massary dem Metropol-Theater vorerst endgültig den Rücken, um sich fortan an verschiedenen Berliner Theatern ganz nach eigenen Vorstellungen entwickeln zu können – mit einer Reihe von Werken, die der Massary ab 1920 von einigen der bedeutendsten Operetten-Komponisten der Zeit direkt auf den Leib geschrieben wurden und sie endgültig zur unangefochtenen Diva assoluta der Operette machten. Erfüllungsgehilfe der ersten »Massary-Operette«: Oscar Straus mit Der letzte Walzer. Das eigens für sie eingeschobene Chanson »Olala, das kann sehr viel sein« wurde zu »Massarys Hamlet-Monolog« (Ludwig Marcuse) und ihr bis dato größter Hit. In den Reigen der »Massary-Operetten« traten in den folgenden Jahren Werke wie Prinzessin Olala (1921) von Jean Gilbert, Madame Pompadour (1922) von Leo Fall sowie Die Perlen der Cleopatra (1923), Teresina (1925) oder Die Königin (1927) von Oscar Straus. Mit jedem Erfolg »schnellten ihre Gagenansprüche raketengleich empor, bis sie eine so märchenhafte Höhe erreichten, dass für die anderen Mitspieler nichts mehr übrigblieb« (Rudolf Bernauer). Ihren wachsende Einfluss nutzte die Massary nicht nur dazu, potenziellen Konkurrentinnen regelrecht das Wasser abzugraben, indem sie mit allen Mitteln verhinderte, dass talentierte Darstellerinnen neben ihr ins Rampenlicht rücken konnten (als sich beispielsweise Claire Waldoff im Rahmen der Uraufführung von Madame Pompadour weigerte, der Massary eine ihrer eigenen schmissigen Nummern abzutreten, musste die Waldoff gehen). Sie wusste den »Mythos Massary« zudem mit einer geschickten Marketing-Maschinerie zu befeuern. Selbst eine Zigarettenmarke wurde nach der Massary benannt, und mit großer Genugtuung berichtete sie oft und gerne davon, dass auf den Berliner Straßen folgende Anekdote die Runde machte: »Haben Sie schon die Massary gesehen?« »Jesehn? – Nee – aber jeroocht!«
Dem jungen Medium Film, ein stetig an Bedeutung gewinnender Faktor der damaligen Unterhaltungsindustrie und damit ein ernst zu nehmender Konkurrent der Operette, verschloss sich die Massary hingegen vehement. Ganz anders Oscar Straus: 1926 war sein Klassiker Ein Walzertraum in einer Film-Fassung für Kinoorchester herausgekommen, die in den Lichtspielhäusern derart erfolgreich lief, dass der Berliner Theaterunternehmer Hans Saltenburg noch im selben Jahr ein umjubeltes Bühnenrevival des Werkes in der Hauptstadt herausbrachte. Straus’ Erfolg auf der Bühne wie im Kino war auch in Hollywood nicht unbemerkt geblieben: Warner Brothers baten ihn 1929, an der weiteren Entwicklung des Tonfilms mitzuwirken. Straus folgte dem Ruf nach Hollywood, stellte jedoch bald ernüchtert fest, dass die dortigen Filmbosse nur sehr begrenzt an der Genese einer musikalischen Filmkunst interessiert waren und viel eher den musikalischen Dienstleister mit Stoppuhr im Visier hatten. Nachdem er dort nur wenige Projekte realisieren konnte (darunter eine Verfilmung von Ein Walzertraum durch Ernst Lubitsch, die 1931 mit Maurice Chevalier und Claudette Colbert in den Hauptrollen als The Smiling Leutenant in die Kinos kam), wandte sich Oscar Straus enttäuscht von Hollywood ab und ging zurück nach Berlin.

Dort war der Stern der Massary inzwischen am Sinken. Nicht nur war ab der Uraufführung von Franz Lehárs Paganini (1926) mit Richard Tauber ein neuer Berliner Operettenstar auf der Bühne geboren, der der Massary den Rang streitig machte, auch hatte sich die Konfektion der »Massary-Operetten« überlebt, ihr jüngstes Beispiel, Eine Frau von Format (1927) von Michael Krauß, geriet zum Flop. »Dabei sollte sicher die Operette Eine Frau von Format […] das Abbild der großen prunkvollen, schlagkräftigen Operette sein. Sie ist aber nur typisch für den Niedergang, für die Stagnation, die in der Operettenfabrikation herrscht«, hieß es anschließend in der Presse. Auch mehrten sich die Spekulationen über Massarys wahres Alter sowie die Kritik an ihren begrenzten stimmlichen Möglichkeiten. Die Massary schlug zurück und verklagte (mit Erfolg) den Herausgeber der Zeitschrift »Die Standarte«, der sie als »stimmlose Soubrette« bezeichnet hatte, wegen Verhöhnung. Sie trat die Flucht nach vorne an und übernahm 1928 in einer All-Starbesetzung unter der Regie von Eric Charell die Titelpartie in Lehárs Lustiger Witwe am Metropol-Theater, freilich nicht ohne zuvor eine Reihe von Änderungen am Stück durchzusetzen. Über die Proben zu dieser Produktion berichtete Massarys Bühnenkollege Max Hansen später: »Eines Tages herrscht große Aufregung. ›Sie‹ hat ihr Chanson noch nicht. Bleich sitzt ›Sie‹ im leeren Zuschauerraum, und mit gebrochener Stimme flüstert ›Sie‹: ›Denken Sie sich, Hansen, jetzt sind wir zwölf Tage vor der Premiere und ich habe mein Chanson noch nicht!!!‹ Ich bin niedergeschmettert und hauche nur: ›Wie ist das möglich?‹ Ein Alp legt sich auf alle, ein Chormädel flüstert’s dem anderen zu, ein Bühnenarbeiter meldet es in der Kantine, die ›prominenten‹ Chauffeure raunen sich’s zu: ›Die Massary hat ihr Chanson noch nicht!!!‹ Die Autoren lassen sich zwei Tage nicht blicken, draußen schneit es. Ich wälze mich nachts in Fieberträumen und schreie wie ein Wahnsinniger: Gebt doch der Massary ihr Chanson!« Das Ergebnis überzeugte nicht jeden. Am Tag nach der Premiere hieß es in der Morgenpost über die Produktion:

»Es ist, als ob eine dünne Staubschicht darauf liege und vom langen Liegen sich eingefressen hätte, so dass sie auch mit dem Saxophon nicht mehr herunterzublasen ist.«

Die Massary beschloss daraufhin, die Operettenbühne zu verlassen und auf die Schauspielbühne zu wechseln. Der Schritt ins Sprechtheater gelang: »Deutschland hat die große Gesellschaftsschauspielerin«, so das Urteil des Berliner Börsen-Courier nach der Premiere von Die erste Mrs Selby von St. John Ervin (1929). Noch größer war der Erfolg am Hebbel-Theater 1931, wo sie in der Komödie Nina ihres Schwiegersohnes Bruno Frank fulminant eine Doppelrolle spielte, und zwar eine »Diva und das Double, die große Dame und den jungen Fratz. Sie muss fortwährend das Kostüm und den ganzen Menschen austauschen. Der Zuschauer sitzt in dauernder Spannung da, wie wird der nächste Wechsel vor sich gehen, wie bekommt der Verfasser die eine Massary von der Bühne, damit die andere Massary auftreten kann …« (Morgenpost)
Der »Schwarze Donnerstag«, der große New Yorker Börsencrash von 1929, hinterließ seine Spuren auch in der Berliner Theaterlandschaft. Reihum mussten Theaterunternehmer ihre Bühnen schließen, darunter etwa Erwin Piscator (Theater am Nollendorfplatz), Eric Charell und Max Reinhardt. Zu den Nachbeben des Finanzcrashs gehörte auch der Zusammenbruch der Niederländischen Amstelbank 1931, durch den die Eheleute Massary und Pallenberg einen Großteil ihres Vermögens verloren. Nicht zuletzt aus finanziellen Beweggründen heraus entschied sich die Massary daher 1932, noch einmal ein Comeback auf der Operettenbühne zu wagen, und wandte sich zu diesem Zwecke an ihre langjährigen Kollaborateure Oscar Straus und den Librettisten Alfred Grünwald. Das Ergebnis der Zusammenarbeit, Eine Frau, die weiß, was sie will!, wurde zu einem Triumph für alle Beteiligten. Noch einmal besann sich Oscar Straus auf seine Wurzeln im Kabarett und stellte sich ganz in den Dienst der Diva, die wie keine andere die Geschichte der Berliner Operette geprägt hat. Wenig deutet in diesem Stück auf die großen politischen und wirtschaftlichen Turbulenzen der Entstehungszeit hin – bis vielleicht auf den Nachhall einiger Referenzen des Librettos, etwa dann, wenn Manons Tochter Lucy davon spricht, dass »Wir Mädels von heute« in der Lektüre von Remarque und Pitigrilli geschult und daher modern seien. Nur kurz zuvor war die Filmpremiere von Remarques Im Westen nichts Neues unter dem politischen Druck der Nationalsozialisten verhindert bzw. verzögert worden – für Carl von Ossietzky ein kulturpolitischer Schleusenöffner der Beugung vor den Nazis und der Anfang vom Ende der Weimarer Republik: »Dieser Film hätte von ihr (der Republik) mit den Zähnen verteidigt werden müssen.« Pitigrilli auf der anderen Seite hatte in seinem Roman Kokain eine zeitgenössische Gesellschaft beschrieben, die sich in den Rausch flüchtet und dabei die gesellschaftlich vereinbarten Werte und Normen aus den Angeln hebt – was womöglich nicht nur zu einer libertinären Ausübung individueller Freiheit sondern politisch auch zu einer Neuvermessung von »Gut« und »Böse« beigetragen haben mag.
Eine Frau, die weiß, was sie will! sollte Fritzi Massarys letzte Berliner Premiere werden. Mit Ausnahme der Massary erhielten in den Dezemberwochen 1932 die Darsteller der Produktion keine Gage mehr, weil alle Einnahmen (abzüglich der Massary-Gage) den bankrotten Betreibern des Metropol-Theaters, den Gebrüdern Rotter, gepfändet wurden. Bereits kurz nach der Premiere wurden die Vorstellungen von Eine Frau, die weiß, was sie will! von Sprechchören im Parkett gestört, die die Parole »Juden raus« während der Aufführung grölten, am Bühneneingang in der Behrenstraße warteten ebenfalls Gruppen, die »Wir wollen auf deutschen Bühnen keine Juden sehen« riefen. Die Jüdin Fritzi Massary sah sich gezwungen, Deutschland noch vor Weihnachten 1932 zu verlassen. Sie emigrierte schließlich nach Kalifornien, wo sie später auch Oscar Straus wiedertraf, der ebenfalls nach Amerika geflüchtet war. Einer seiner Söhne, Leo Straus (Kabarettist und Dramaturg), war im KZ Auschwitz-Birkenau ums Leben gekommen. Zwar stand die Massary kurze Zeit nach ihrer Flucht aus Berlin noch ein letztes Mal in London auf der Bühne – für eine Operette, die ihr Noel Coward auf den Leib schrieb – doch konnte sie damit nicht an ihre früheren Erfolge anknüpfen. Im Berliner Metropol-Theater hatte ihre große Karriere einst begonnen, hier hatte sie 1932 auch geendet. Ihr Geist lebt fort – nicht nur in der Erinnerung und den überlieferten Tonaufnahmen, sondern auch – wie Barrie Kosky sagt – als Schutzengel der Komischen Oper Berlin.

Dezember 2025

https://www.komische-oper-berlin.de/ Komische Oper Berlin Bismarckstraße 110, 10625 Berlin
Di
23.
Dez
19:30
Wieder da!
Schillertheater – Großer Saal
Im Anschluss
After Show Lounge
https://www.komische-oper-berlin.de/ Komische Oper Berlin Bismarckstraße 110, 10625 Berlin
Mo
29.
Dez
19:30
Schillertheater – Großer Saal

Januar 2026

https://www.komische-oper-berlin.de/ Komische Oper Berlin Bismarckstraße 110, 10625 Berlin
Sa
24.
Jan
19:30
Zum letzten Mal in dieser Spielzeit!
Schillertheater – Großer Saal

#KOBEineFrau

10. März 2024
Dem glühenden Operettenfan Barrie Kosky ist mit »Eine Frau, die weiß, was sie will!« endlich wieder ein glaubhaftes Plädoyer für die subversive Kraft dieses Genres gelungen … Sein Konzept geht so brillant auf, dass es das Publikum schier vom Hocker reißt und der Abend am Ende mit stehenden Ovationen bejubelt wird.
Emotionale Unverstelltheit
Julia Spinola, Deutschlandfunk
#KOBEineFrau
7. März 2024
Es ist ein Triumph. Für Dagmar Manzel und Max Hopp, die an diesem umjubelten Premierenabend in 20 verschiedene Rollen schlüpfen. Für Barrie Kosky, der Oscar Straus’ »Eine Frau, die weiß, was sie will!« mit virtuoser Regisseurshand als Zwei-Personen-Stück arrangiert hat. Und auch für das neue Geschichtsbewusstsein an der Komischen Oper, das auch die Zeiten vor Walter Felsenstein und seinem realistischen Musiktheater reflektiert. Unter dem Namen »Metropol Theater« residierte seit 1897 an der Behrenstraße eines der mondänsten Vergnügungsetablissements der Reichshauptstadt.
Meine Mama ist ’ne Diva
Frederik Hanssen, Der Tagesspiegel
#KOBEineFrau
3. März 2024
Umwerfend. Überwältigend. Überrumpelnd. Es gibt keine anderen Bezeichnungen, um die Neuproduktion der Komischen Oper in Berlin zu beschreiben.
Das ist ein wahnsinniges Maskenspiel
Tilman Krause, Die Welt
#KOBEineFrau
29. Februar 2024
Befreites Lachen füllt den Saal. Die Dummheit ist besiegt. Die große Kunst des Metropol ist wieder da mit all ihrem Glanz und Witz, und mit ihrem Spott und Hohn gegen die Lügner aller Klassen. Sie wird bleiben.
Das Metropol-Theater ist zurückgekehrt
Niklaus Hablützel, taz
#KOBEineFrau
31. Januar 2015
Damit ist in dieser Aufführung tatsächlich alles drin, von überdrehtem Tingel-Tangel bis zur eindringlichen Jazz-Ballade. Dieser Abend hat Sogwirkung, ist ganz großes Theater, eine Sternstunde der Saison.
Virtuoser Schleudergang
Eckhard Weber, Siegessäule
#KOBEineFrau