Musikalische Schocktherapie

Così fan tutte im Hier, im Jetzt und mit uns – von Maximilian Hagemeyer
Es sind drei Opern für die Ewigkeit, die Wolfgang Amadeus Mozart gemeinsam mit dem Textdichter Lorenzo Da Ponte in nur wenigen Jahren erschafft: Die Musiktheaterkomödie Le nozze di Figaro, die mit ihrem Tempo und ihrer Situationskomik über Jahrhunderte prägend blieb. Don Giovanni, dessen abgründige Hauptfigur bis heute interpretatorischer Spielball zahlreicher inszenatorischer Ansätze ist. Und zuletzt Così fan tutte, die … die … Ja, die was eigentlich? Die ein krudes Beziehungsexperiment beinhaltet, das sowieso niemand glaubt? Die ein veraltetes Frauenbild des 18. Jahrhunderts in eine Oper gießt? Die als fades Geschwisterkind des Figaro im Schatten seiner Vorgänger steht? Zeit für eine Standortbestimmung …

Erfolge machen süchtig

Die Zusammenarbeit des italienischen Dichters Lorenzo Da Ponte mit Wolfgang Amadeus Mozart nahm mit Le nozze di Figaro, das 1786 an der Wiener Hofoper seine Uraufführung feierte, ihren Anfang. Die beiden hatten sich wenige Jahre zuvor kennengelernt und der Figaro war für beide ein unglaublicher Erfolg: Hatte Kaiser Joseph II. noch unverblümt politische Schauspiel-Aufführungen desselben Stoffes verboten – die anti-aristokratischen Tendenzen waren sowohl der österreichischen als auch der französischen Monarchie zu heikel –, konnte ihn Mozarts Umsetzung überzeugen. Er selbst soll dem Kaiser einige Nummern zur leichteren Meinungsfindung vorgespielt haben. Der große Erfolg des Werks zeigte sich unter anderem daran, dass nach der dritten Vorstellung verboten wurde, Arien bei großer Begeisterung wiederholen zu lassen – zu lang drohten die Theaterabende zu werden! Bereits Ende des Jahres folgte eine gefeierte Aufführungsserie in Prag, sodass Mozart im Januar eingeladen wurde, dort eine Vorstellung persönlich zu dirigieren. Daraus resultierte der Kompositionsauftrag für die zweite Zusammenarbeit Mozarts mit Da Ponte: Don Giovanni. Nur wenige Monate später, im Oktober 1787 folgte die Uraufführung am Prager Nationaltheater (dem heutigen Ständetheater). Wieder ein enormer Erfolg! Wie schon bei Figaro wurden beide Werke im deutschsprachigen Raum dank ihrer Übertragung ins Deutsche populär. Anstatt der Rezitative gab es – in bester deutscher Singspieltradition – gesprochene Dialoge.

Zwei Jahre später feierte Figaro eine fulminante Wiederaufnahme in Wien. Es könnte sein, dass diese der Anlass für einen neuen Kompositionsauftrag an Österreichs inzwischen 33‑jähriges »Wunderkind Nummer 1« war. Gesichert ist zumindest, dass Lorenzo Da Ponte den Text zu Così fan tutte gar nicht im Auftrag für Mozart schrieb, sondern La scuola degli amanti, so sein ursprünglicher Titel, Antonio Salieri anbot. Dieser brach die Arbeit allerdings nach ein, zwei auskomponierten Nummern ab und so wanderte das Libretto weiter an Mozart. War tatsächlich die Wiederaufnahme des Figaro Anlass zum Auftrag für Così fan tutte, so muss die Komposition in nur vier Monaten vonstatten gegangen sein: Die besagte Wiederaufnahme fand am 29. August 1789 statt und Così fan tutte wurde bereits am 26. Januar 1790 uraufgeführt. Aufgrund des Ablebens des Kaisers und der damit einhergehenden Staatstrauer kam es zu nur vier weiteren Aufführungen (über welche die Kritik allerdings positiv berichtete). Erst im Sommer kam die Oper auf die Bühnen der Theater in Frankfurt, Prag, Leipzig und Dresden. Doch setzte mit den Folgeaufführungen auch eine Welle von Bearbeitungen ein, mehr noch als zu dieser Zeit bei anderen Werken üblich. Così fan tutte galt als zu frivol, und so versuchten zahlreiche textliche Neufassungen, ebendies zu umschiffen – freilich auf Kosten der Nähe zu Mozarts Original.
Szene aus Così fan tutte

Gelegen­heiten ma­chen Lie­be

Und tatsächlich ist die Intimität des Werkes, die man als Grundvoraussetzung für seine »Frivolitäten« ansehen kann, vielleicht eines seiner Alleinstellungsmerkmale im Musiktheater-Œuvre Mozarts. Spielt sich der Liebesreigen von Figaros Hochzeitsnacht noch im Gefälle zwischen Adelsstand und Dienstboten, Öffentlichkeit und Privatem ab, so wird das Geschehen bei Così fan tutte ausschließlich hinter verschlossenen Türen verhandelt – wobei dem Publikum eine umso wichtigere Rolle zukommt!

Ein denkwürdiger Beginn läutet die Geschichte ein: Der reife Don Alfonso zieht die beiden jungen Männer Guglielmo und Ferrando mit der vermeintlichen Untreue ihrer Geliebten auf, den Schwestern Fiordiligi und Dorabella. In nur einem Tag will er deren amouröse Wankelmütigkeit unter Beweis stellen. Auffällig ist, wie austauschbar die vier Hauptfiguren eingangs wirken: Männer, die auf die Treue ihrer Frauen schwören, Frauen, die sich gegenseitig zum gutaussehenden »Fang« bei der Partnerwahl beglückwünschen. Während also Don Alfonso archetypisch als weiser Mann (mit undurchsichtigen bis diabolischen Hintergedanken) eingeführt wird und Despina als von der Männerwelt enttäuschte und verratene, nun emanzipierte Frau, zeigen sich die vier jungen Liebenden vor allem als das: jung und verliebt! Auf die Gründe angesprochen, warum gerade ihre Geliebten ihnen treu sein werden, stammeln Ferrando und Guglielmo nur Allgemeinplätze zusammen wie »Gute Erziehung«, »fester Charakter« und »Selbstlosigkeit«. Vielschichtige Charakterbeschreibungen sehen anders aus. Doch das spart sich Mozart für später auf … Das Fehlen offensichtlicher historischer Beziehungsstrukturen (etwa das Diener-Herr-Verhältnis im Figaro) verführt noch etwas mehr zu einer zeitgenössischen Identifikation mit den Handelnden, wie sie Kirill Serebrennikovs Inszenierung versucht. Doch wie stellt sich in diesem Rahmen die beschworene Intimität in Mozarts Werk ein? Ein bedeutender Faktor ist die strenge Einhaltung der dramatischen Einheit von Ort, Zeit und Handlung: Das Geschehen spielt sich an einem Tag ab, der dramatische Handlungsrahmen wird gleich zu Beginn klar umrissen (was das Gefühl, einem Experiment zuzuschauen, noch verstärkt) und auch der Ort ist größtenteils einheitlich. In der Inszenierung von Kirill Serebrennikov verstärkt sich der Eindruck der Gleichzeitigkeit noch dadurch, dass er eigentlich nicht sichtbare Handlungen auf den beiden Ebenen seiner Bühne wahrnehmbar werden lässt. So werden Figuren einerseits in Momenten sichtbar, in denen sie laut Libretto nicht auf der Bühne sind, andererseits eröffnet der Aufbau ambivalente Möglichkeiten der Lesart: vom Blick in die Psyche der Figuren bis hin zur Trennung in Realität und Traumwelt. Es gibt zudem keine wirkliche Außenwelt in Mozarts Così fan tutte: Die Einberufung in die Armee sowie die Hochzeitsgesellschaft am Ende sind nur fingierte Öffentlichkeit. Beides gehört schließlich zum Plan der drei Männer. Umso deutlicher liegt der Schwerpunkt auf dem Spiel der zwei Paare, komplettiert durch Don Alfonso und die von der Männerwelt enttäuschte Despina. Nur ein Drittel aller Musiknummern sind ferner Soloarien (und davon auch nur drei innere Monologe), was das Kammerspiel-Ambiente unterstreicht.
Szene aus Così fan tutte

Verkleidungen machen Probleme

Der dramaturgische »Casus knacksus« ist in Così fan tutte sicherlich die Wiederkehr von Ferrando und Guglielmo in Verkleidung – und dass diese von den Frauen nicht erkannt werden. Der Mann der eigenen Schwester nähert sich in Maskierung und man ist, zugespitzt gesagt, zu blöd ihn zu erkennen? Selbst in der fantasievollen Welt der Opernhandlungen ist das nicht wenig verlangt vom Publikum. Oder? Bis ins 20. Jahrhundert war man sich über die gemeinsame Verabredung einig: Das Publikum erkennt die Verkleidung, die Handelnden auf der Bühne nicht. Als die Konvention nicht mehr galt, musste die jüngere Musiktheater-Rezeption dafür neue Wege des Umgangs finden: Mal wurde die gesamte Handlung in das Zirkus- oder Theatermilieu verlegt, wo Verkleiden Teil der Realität ist. Mal durften die Frauen das Verkleiden selbst beobachten und wurden so zu mündigen Mitwisserinnen der Intrige. Oft wurde aber auch der Charakter des lehrhaften Experiments betont, den der Originaltitel La scuola degli amanti (Die Schule der Liebenden)von Lorenzo Da Ponte in sich trägt. Kirill Serebrennikovs Inszenierung geht einen Sonderweg: Es sind nicht Ferrando und Guglielmo, die den Frauen erscheinen, sondern zwei komplett anders aussehende Männer. Ihre Stimmen bekommen die beiden »Männer aus Albanien« (so das Libretto) geliehen und werden so zu Avataren ihrer »wirklichen« Figuren. Wobei die Einschätzung, was an dieser Stelle dann noch die »Wirklichkeit« ist, jedem und jeder selbst überlassen bleibt. In Hinblick auf die psychologische und dramaturgische Entwicklung seiner Figuren nimmt Serebrennikov einen weiteren Kniff vor: Der Abmarsch zur Armee vermischt sich auf visueller Ebene mit einer Begräbniszeremonie. Einbildung von Fiordiligi und Dorabella, geboren aus dem Schmerz des Abschiednehmens, oder wirklicher Verlust? Auch hier gibt es keine eindeutige Antwort. Fakt ist, dass die reine Möglichkeit, der Abschied könnte auch ein Verlust für immer gewesen sein, die Wahrnehmung der weiteren Entwicklung der Figuren maßgeblich beeinflusst. Es ist der Beginn der Schocktherapie.

Emotionen machen Menschen

Die eingangs erwähnte glatte Oberfläche der vier Liebenden bleibt zum einen nur von kurzer Dauer, zum anderen legt Da Ponte gewisse Charakterzüge bereits (gut versteckt) in die Namensgebung: So ergibt die Herleitung aus dem italienischen »Fior-di-ligi(o)« etwa »Blume der Treue«, während Dorabella eine Mischung aus dem griechischen »Dorothea« und dem Adjektiv »bella« ist: »Schönes Gottesgeschenk«. Und tatsächlich, kaum ist die Katze aus dem Sack, sprich die Geliebten eingezogen, entblättern beide ihr Wesen. Während Fiordiligi »wie ein Fels« auf ihre Standhaftigkeit pocht, grenzt Dorabellas Arie »Smanie implacabili« (Unversöhnliche Wut) schon dermaßen an Übertreibung, dass manch einer sich fragt, wohin so eine Wut noch führen kann … Viel wichtiger vielleicht noch als solch beschreibende Charakterisierungen ist aber die Kraft der Musik, mit der Mozart seine Figuren nun in Schwingung versetzt. Selbst für einen mit Talent so reich beschenkten Künstler wie Mozart, grenzt die Fülle an emotionaler Feinsinnigkeit, die in den Klängen dieser Oper aufwartet, an pure Magie. Seien es die kantigen, nach der Opera seria angelegten, aufwallenden Arien wie erwähntes »Smanie implacabili«, die feinen, zerbrechlichen Momente wie das Terzett »Soave sia il vento« oder auch die komischen Momente einer Despina. Die emotionale Aufrichtigkeit, mit der Mozart seine Figuren versieht, geht weit über die Geschlechterklischees hinaus, die mit dem Werk verbunden werden. Für Kirill Serebrennikov ist es die »volle Tiefe und Bandbreite der Emotionen«, die die Musik den Zuschauenden vermittelt. Eine musikpsychologische Ebene, die auf textlicher Ebene vor allem im weitreichenden Gebrauch von Symbolen vollzogen wird: Es werden Herzen geschenkt, auf Felsen geschworen und der rare Phönix von Arabien gesucht. Kein Wunder, dass das Werk im Windschatten der Psychoanalyse Anfang des 20. Jahrhunderts auf größtes Interesse stößt. Dadurch, dass bei Serebrennikov der Einzug der beiden Männer zur Armee auch als ein möglicher Tod gelesen werden kann, wird das Feld der Themen von Treue und Anziehung erweitert um den Umgang mit Trauer und Verlust. »Vielleicht ist mein Liebster tot?«, fragt Dorabella, in dieser Lesart fast prophetisch, als Don Alfonso noch vor dem Abmarsch mit Grabesmiene die Szenerie betritt. Dieser Schock, der weit über eine mögliche Treueprobe hinausgeht, eröffnet nun den viel größeren Raum der Emotionen. Er eröffnet aber auch die Möglichkeit eines »Andockens« an die Gegenwart: Denn was der oder die einzelne in der Handlung des zweiten Aktes lesen mag, ist an die ganz persönliche Haltung dazu geknüpft. Es ist die eigene Erfahrung und Sichtweise gefragt: Ist es Trauerverarbeitung? Ist es die magische Kraft des Eros? Geht es doch »nur« um ein Treueexperiment? Wie anfangs erwähnt ist die einzige Öffentlichkeit, für die sich Treuebruch, Spiel und Anziehung abspielen, das Publikum. Mozart erzieht uns zu mündigen Zuschauenden, denn es liegt an uns, die emotionale Bandbreite einzuordnen. Eine Ambivalenz, die Serebrennikovs Interpretation freudvoll aufgreift. Es gibt kein Urteil, nur menschliche Resonanz im Hier und Jetzt.
Szene aus Così fan tutte

So machen es alle

Womit wir bei der Gretchenfrage sind: Wer sind denn jetzt die im Titel und Text erwähnten »tutte«? Sind es wirklich alle Frauen? Die im Text kolportierten Frauenbilder, vor allem in Bezug auf ihre Treue, sind mehr als fragwürdig. Genauso die vermeintliche Oberflächlichkeit, mit der die Paare, Männer wie Frauen, am Anfang gezeichnet werden. Doch im Kosmos aus Anziehung und Trauer, Liebe und Verlust schält sich eine Wahrheit heraus, die sich über diese Fragestellung erhebt: Es ist kompliziert. Man mag den Schockmoment des Verlustes, die Grausamkeit eines Don Alfonso verwerflich finden – aber es führt die Figuren und damit auch uns näher an das reale Leben. Vielschichtig in der Emotionalität, mit Macken, Narben und Fehlern, aber auch mit ganz viel Liebe in all ihren Formen und insbesondere ohne einfache Lösungen. Die Antwort bleibt aus. Der Versuch, das Leben zu verhandeln, läuft weiter. Denn so machen es alle.

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