Ein Hoch auf die Num­mer zwei!

Der musikalische Leiter Adam Benzwi im Gespräch über linke Hände, die hohe Schule der Travestieclubs und pure Lebensfreude in Barrie Koskys Inszenierung Chicago.
Beim Musical wird bei der Probenarbeit im Dialog zwischen Regie und musikalischer Leitung noch richtig viel Hand anlegt. Wie würdest du die Zusammenarbeit mit Barrie Kosky beschreiben?

Adam Benzwi: Ich würde sagen, Barrie und ich denken da ähnlich: Das Werk ist wie die »linke Hand«. Die »rechte Hand«, das sind die Darsteller. Im Probenprozess geht es darum, dass diese beiden Hände zueinanderfinden und sich mit jeder Vorstellung noch enger verschränken. Ich finde es sehr wichtig, dass sich Sänger und Schauspieler persönlich in die Probenarbeit einbringen. In den musikalischen Proben beobachte ich, bei welchem Wort, welcher Melodie der Sänger Feuer fängt. Ich wünsche mir, dass sie die persönlichen Geschichten, die oft dahinterstecken, für die Arbeit nutzbar machen können. So können sie jeden Abend ihre ganz persönliche Wut, ihre persönliche Erotik, ihren persönlichen Humor einbringen.

Woran merkt man, dass die Sänger:innen sich das Werk persönlich zu eigen machen?

Adam Benzwi: Wenn Katharine Mehrling oder Jörn-Felix Alt einzelne Worte ändern, merke ich, hier fängt der Aneignungsprozess an. Deshalb freue ich mich, wenn jemand sagt: »Dieses Wort gefällt mir nicht!«, da weiß ich: »Ach schön, wir arbeiten richtig!« Ich finde, Musik wird bereichert, wenn man den Gedanken oberste Priorität gibt und diese in und mit der Musik verhandelt.

Schwarzer Humor

Dich verbindet eine sehr persönliche Geschichte mit der deutschen Fassung von Chicago. Du hast bereits Ende der 80er-Jahre in einer Produktion des ehemaligen künstlerischen Leiters des Theaters des Westens, Helmut Baumann, mitgewirkt. Und dir war es wichtig, genau diese deutsche Fassung auch an der Komischen Oper Berlin zu machen.


Adam Benzwi: Ich finde diesen deutschen Text wunderbar, und es macht gar keinen Sinn, ihn mit dem englischen zu vergleichen. Ich empfinde den Humor von Chicago als dem deutschen Humor ähnlich, also schwarz und zynisch. Manche Dinge sind in der deutschen Fassung ein bisschen anders als im Englischen, treffen aber die Stimmung und den Gesamtinhalt genau. Ich bin nicht der Meinung, dass jeder Satz wortgenau übersetzt sein muss. Wichtig ist, dass die Witze auf Deutsch funktionieren und die Alliterationen und Reime im Deutschen richtig gut wirken. Dann ist es egal, ob das Bild ein bisschen vom Original abweicht.

Auch auf der musikalischen Seite muss Übersetzungsarbeit geleistet werden. Für Chicago liegt keine detaillierte Partitur vor, sondern ein handgeschriebener Klavierauszug, aus dem das Arrangement herausgelesen wird. Wie kann man sich die Zusam-menarbeit vom Komponisten und Arrangeur vorstellen?

Adam Benzwi: John Kander und Fred Ebb schrieben die Melodien und Harmonien am Klavier, aber arrangiert, also orchestriert, wurden sie von Ralph Burns. Ralph Burns war, wie ich, ursprünglich Pianist und wurde später zu einem gefragten Broadway-Arrangeur. Mit Bob Fosse arbeitete er auch bei der Verfilmung des Musicals Cabaret zusammen, wofür er seinen ersten Oscar erhielt. Das Arrangement des Films ist tatsächlich besser als das Original-Musical. Im Musical war eine klassische 60er-Jahre Big Band besetzt. Für den Film arrangierte Burns sechs Instrumente auf sehr kostbare Art und Weise. Es klingt nach den Berliner Musikkapellen, die Claire Waldoff und Co. auf den Aufnahmen der 1920er- und 30er-Jahre begleiten.
Jörn-Felix Alt als Billy Flinn in orangenem Anzug und Zylinder sowie Tänzer:innen in schwarzen Anzügen und mit Zylinder auf dem Kopf auf  Bühne Komische Oper Berlin im Schillertheater
Was zeichnet Burns’ Arrangements aus?

Adam Benzwi: Die kunstvolle, geschmackvolle Art. Mit großen, erlesenen Entscheidungen. Weniger ist mehr war seine Devise. Gesungene Passagen sind oft nur sparsam begleitet, damit der Gesang ohne Anstrengung möglich und hörbar ist. Das kann man sehr gut in der Aufnahme der New Yorker Produktion von 1975, also der Urfassung, hören. Beim Song des ebenso charmanten wie widerlichen Anwalts Billy Flynn »Bin nur für die Liebe da« zum Beispiel wird die Melodie von einem tiefen Saxophon gedoppelt, und das klingt ganz köstlich schleimig nach übergriffigem Mann. Übergriffig, aber charmant und unterhaltsam. An anderer Stelle hört man dann wieder nur eine armselige Geige. Für die Produktion an der Komischen Oper Berlin nutzen wir die Original-Arrangements aus den 1970er-Jahren, die Helmut Baumann 1977 in Hamburg für die deutsche Erstaufführung benutzte.

Im Notenmaterial finden sich Anmerkungen wie: »Quasi Johnny Hodges«, »Quasi Cootie Williams« oder auch »Klavier add a few Count Basie plinks and plonks«.

Adam Benzwi: Das sind konkrete Zitate, die Burns hier eingezeichnet hat. Eine Trompete soll dann zum Beispiel klingen wie Trompetenspieler X. Häufig sind das aber eben nicht die ganz großen Stars. Burns lässt vielmehr die »Beinahe-Stars« aus der zweiten Reihe hochleben, die kleineren Jazzbands, Musiker mit großer Persönlichkeit, die nie die ihnen eigentlich gebührende öffentliche Aufmerksamkeit erhielten.

Roxie und Velma verlieren am Ende von Chicago den Kampf um öffentliche Aufmerksamkeit gegen eine Ananas-Erbin aus der Upper-class. Da können sie anstellen, was sie wollen, der können sie beide nicht das Wasser reichen. Killer-Girls aus der Arbeiter- klasse eben …

Adam Benzwi: Und das spiegelt sich in der Musik! Burns lässt die Arbeiterklasse in der Musik aufleben. Die klingt nach drittklassigem Varieté, nach zweitklassigen, tollen, lebendigen Jazzmusikern. Es ist eben nicht Benny Goodman. Ich habe früher selbst im legendären Travestielokal Die Lützower Lampe gespielt und es geliebt, und ich will das aufleben lassen. Da bringt auch die Arbeit mit dem Chor unheimlich viel Freude! Die Chorsolisten können sauber und schön singen und gleichzeitig macht es eben auch Spaß, bewusst ungepflegt zu singen, berlinerisch, wie Tänzerinnen einer burlesque Kaschemme, bewusst den Ton nicht sauber zu treffen. Chicago ist ein Musical, wo das hineingehört. Es ist etwas Großes, nicht sauber zu sein, wild, und frei zu improvisieren. Einfach pure Lebensfreude!

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