Was für eine trübe Zeit ... Monatelang im Lockdown, monatelang ein verkümmertes soziales Leben. Wer Tag für Tag im Homeoffice verbringt, ohne abendliche Verabredungen, Kneipen- oder Theaterbesuche, dem verschwimmt die Zeit zum monotonen Einerlei, dem gerät der Mangel an Abwechslung zur echten Herausforderung. Derart heftig brennt die Sehnsucht nach Veränderung, dass sie wenigstens in den eigenen vier Wänden stattfinden soll – also tobt die große Renovierungswut in Deutschland! Neuer Anstrich, neue Bilder an der Wand, neue Sofaecke ... oder besser gleich die ganze Sofa-Landschaft? Egal, Hauptsache Tapetenwechsel! Wenigstens in diesem ganz, ganz schlichten, wörtlichen Sinne muss das doch möglich sein!
Tapetenwechsel – da kommt unser heutiges Konzertprogramm wie gerufen. Komponisten nämlich wissen ganz genau, wie man Abwechslung auf kunstvolle Weise herbeizaubern kann. Sie kennen dafür ein eigenes musikalisches Mittel – die Variation. Ein aufregendes kompositorisches Prinzip, das sich wie ein roter Faden durch die Musikgeschichte zieht: Variationen begegnen uns in Suiten oder Rondos, am Klavier oder im Streichquartett – allesamt darum bemüht, etwas Vorhandenes derart raffiniert und virtuos zu verändern, dass sich auf kleinstem Raum eine Unendlichkeit an Möglichkeiten entfaltet. Egal, ob eine erfundene oder eine tradierte Melodie variiert wird, egal, ob ein musikalischer Topos oder ein harmonisches Schema seine Metamorphose durchläuft – seit jeher war die Variation ein Garant für unkonventionelle Lösungen und unorthodoxe Vorstöße, seit jeher bahnte sie Wege für Neuerungen. Variationen in der Musik zeigen uns kaleidoskopisch-facettenreiche Blicke auf ein und dieselbe Sache und lehren uns damit die Fähigkeit zum Perspektivenwechsel. Kurz: Sie zeigen uns das, was wir im Lockdown so schmerzlich vermissen ...
Anton Webern: Variation als Verdichtung
Ein wahrer Meister der Variation war Anton Webern. In zahlreichen seiner Werke hat er die Variationstechnik erprobt, ja, er bezeichnete sie sogar als »Vorläuferin« der Zwölftontechnik. Durchaus zu Recht, beruht doch die dodekaphone Komposition ebenfalls auf der Variation; der Variation einer Grundreihe – nicht umsonst haben sich auch Weberns Mitstreiter Schönberg und Berg vielfach damit beschäftigt. Einen besonders faszinierenden Umgang mit diesem Konstruktionsprinzip zeigt Webern in seinen Variationen für Orchester op. 30, denn darin variiert er nicht nur Töne, sondern auch Klangfarben und Dynamiken auf bestechend raffinierte Weise. Am Anfang steht, basierend auf der zugrundeliegenden Zwölftonreihe, eine komprimierte musikalische Gestalt, vorgestellt von Kontrabass und Oboe. »Alles nun, was in dem Stück vorkommt, beruht auf den beiden Gedanken, die mit dem ersten und zweiten Takt gegeben sind (Kontrabass und Oboe)«, beschrieb Webern selbst sein Verfahren. Und tatsächlich entwickelt er aus diesem minimalen genetischen Material die gesamte Partitur, sechs Variationen mit je unterschiedlichem Akzent und Charakter. »So und so viele Metamorphosen der ersten Gestalt ergeben das ›Thema‹«, so Webern. »Dieses als neue Einheit geht wieder durch so und so viele Metamorphosen; diese wieder zu neuer Einheit verschmolzen, ergeben die Form des Ganzen.«
So kompliziert sich das liest – schiebt man die überbaulichen strukturellen Implikationen beiseite, so sind Weberns Variationen vor allem eines: Eine unfassbar aufregende Schule des Hörens. Webern arbeitet mit feinsten Nuancen, lässt etwa ein und denselben Ton kurz hintereinander von verschiedenen Instrumenten spielen. Das hat unmittelbare Auswirkungen auf unsere Wahrnehmung: Sie schärft sich, sensibilisiert sich, bringt all ihre Antennen blitzwach auf Sendung. Die Komposition strahlt eine große Fragilität und Feingliedrigkeit aus – mal springt die Musik nervös und quecksilbrig hin und her, mal ruht sie in längeren Akkordflächen. Celesta und Harfe setzen immer wieder feine Glanzpunkte, als wollten sie kurze Lichtsignale aussenden. Alles in allem verwendet Webern minimalste Mittel – aber was für eine Vielfalt erreicht er damit! Was für eine Verdichtung von Form und Ausdruck – auf kleinstem Raum, in gerade einmal sieben Minuten! Permanent verändert sich die Musik auf Basis kleinster motivischer Bausteine – eine Metamorphose ergibt eine Metamorphose ergibt eine Metamorphose ergibt ... Webern nutzt also das Variationsprinzip, löst es aber bis an seine Grenzen auf: Weder das Thema noch seine Verwandlungen sind so eindeutig zu erkennen, wie wir das aus klassischen Variationsstücken kennen – genau diese dadurch hervorgerufene Halt- und Orientierungslosigkeit beim Hören aber macht es so spannend, denn sie bringt das gesamte musikalische Gewebe zum Schillern. Unbestritten zählen die Variationen für Orchester zu Weberns wichtigsten Arbeiten überhaupt – viele nachfolgende Komponisten empfanden sie als revolutionär für die Musikgeschichte und ließen sich dementsprechend davon inspirieren.
Friedrich Gulda: Variation als Verschwendung
Auf Verdichtung läuft es also bei Anton Webern hinaus – doch das ist nicht die einzige Möglichkeit, sich mit Variation zu beschäftigen. War Webern ein Meister des komprimierten Minimalismus҆, so war Friedrich Gulda zweifelsohne Meister einer der überschäumenden Verschwendung. Schon sein Leben scheint eine einzige Variation, ein Ausprobieren unzähliger Möglichkeiten, ein permanentes Sich-Neu-Erfinden: 1930 in Wien geboren, startete er als Pianist im Klassikbetrieb, setzte Marksteine mit seinen Interpretationen von Bach, Mozart oder Beethoven – litt aber schon bald am reaktionären Habitus der Branche. Kurzerhand erweiterte er seinen Radius, holte sich Impulse aus dem Jazz, übte sich in Improvisation und Variation, jammte mit Chick Corea, Herbie Hancock und anderen Jazzgrößen. Gulda überwand einengende Etikette und wählte vor allen Dingen eine Überschrift für seine künstlerische Arbeit: Freiheit! Schubladen – wozu? Warum sollte man als Ernste-Musik-Pianist nicht auch Rave-Partys organisieren? Warum sollte man Schumanns Frauenliebe und -leben nicht einfach nackt aufführen? (So geschehen gemeinsam mit Guldas Lebensgefährtin Ursula Anders.) Wen interessieren Grenzen, wenn man stattdessen die Grenzenlosigkeit wählen kann?
Diese wilde, genreübergreifende Fülle schlägt sich auch in Guldas kompositorischem Werk nieder – ganz besonders in seinem Konzert für Violoncello, 1980 für Heinrich Schiff komponiert. Schon die Besetzung lässt aufhorchen: Das Solo-Cello begegnet einer Bläser-Combo, changierend zwischen Bigband und Blaskapelle, angereichert durch E-Gitarre und Drum-Set. Kühne Mischung – immer wieder scheint die Musik bekannt, immer wieder klingt sie dann aber doch ganz anders und fremd. Da rockt und funkt es, während zugleich die Alpenidylle ruft. Da spielt das Cello vorbildlich zahm im galanten Stil und grooved kurz darauf so heftig, dass die Saiten glühen.
In fünf Sätzen breitet Gulda seine schamlos eklektizistische Stil-Mixtur aus: Die Ouvertüre (I) geht mit Rock und Funk in medias res, serviert einen satten Bigband-Sound, der aber durch zwei alpenidyllische Zwischenspiele ausgebremst wird – die Holzbläser lassen auf grünen Bergwiesen Kühe wiederkäuen, das eben noch groovy fetzende Cello kaut freundlich nickend mit. Und dieses Alpenidiom macht es sich in der Idylle (II) dann so richtig gemütlich: Gediegene Hörnerklänge laden zu den Kühen nun auch alle anderen auf die Bergwiese, die Gitarre setzt sich als Zither verkleidet dazu, man schwelgt hemmungslos in Folklore und tanzt jodelnd einen Ländler. Für den Solisten ist diese Idylle noch einmal ein kleiner Ruhepunkt, bevor es in der Cadenza (III) so richtig zur Sache geht. Das Orchester schweigt, der Cellist schuftet in allen nur erdenklichen Facetten seines Instruments und benötigt dabei auch den Mut zur Improvisation – in einer Passage muss er rund um die leere A-Saite improvisieren, in einer anderen mit Flageolett-Tönen zaubern. Gulda nutzt hier einerseits ganz konventionell die tradierte Form der Kadenz als Plattform für eine individuelle solistische Darbietung – öffnet mit ihr aber andererseits auch einen Raum für wildes Experimentieren. Wieder engere Zügel legt er im Menuett (IV) an: Höfisch-galant kommt es daher, die perkussiv-punktierte Rhythmik gemahnt an den Stil von Lully und Rameau, Tamburin und Gitarre machen das klangliche Tableau perfekt. Und dann hüpft die gesamte Hofgesellschaft Richtung Bierzelt: Volksfeststimmung! Im Finale alla marcia (V) lärmt die Blaskapelle eine Polka in zuverlässig tumber Manier, während der Cellist weiter virtuos sein Instrument abfackelt – ein paar unermüdliche Jazzer versuchen, im Bierzelt zwar noch zu ihrem Recht zu kommen, werden aber von den Bierseligen glatt überrannt. Die Polka siegt ...
Eine überschäumende Variation über vertraute musikalische Topoi, ein eklektizistischer Parforce-Ritt – den mancher vielleicht auch kritisch sehen mag. Der Komponist Moritz Eggert etwa, dessen Oper M – Eine Stadt sucht einen Mörder an der Komischen Oper Berlin zu erleben war, schätzt zwar Guldas »Transgression« und »Grenzüberschreitung«, findet die Stilimitate alles in allem aber zu bieder. »Imitiert Gulda Schubert, reduziert er ihn auf alpenländische Hornquinten und Tonika und Dominante«, bemängelt Eggert. »Imitiert er Jazz, so bringt er genau die Akkorde, die man von einer jazzigen Passage erwartet.« Da mag vielleicht etwas Wahres dran sein, aber ganz ehrlich: Macht diese Variationsorgie nicht einfach viel zu viel Spaß, als dass wir sie ausgerechnet jetzt in Frage stellen wollten? Gerade in dieser ausgebremsten Zeit tut sie einfach doppelt gut ...
Wolfgang Amadeus Mozart: Variation zum Licht
Nur wir im Homeoffice? Stimmt nicht ganz ... »Ich bin immer zu Hause«, schrieb Mozart im Sommer 1788 an seinen Logenbruder Michael Puchberg, er solle doch mal vorbeischauen. Besuch, Abwechslung, Zuspruch – das konnte Mozart dringend gebrauchen, denn es war eine düstere Zeit für ihn: Am 19. Juni war eine seiner Töchter gestorben, außerdem plagten ihn die Geldsorgen immer heftiger – insbesondere bei Puchberg hatte er sich bereits hoch verschuldet und musste immer wieder neu Geld leihen. Auch die Welt um Mozart herum zeigte sich alles andere als hell: Durch den Krieg gegen die Osmanen befand sich Österreich in einer schweren Wirtschaftskrise, zur Inflation gesellten sich Hunger und Epidemien. Keine gute Zeit für die Kunst, das kulturelle Leben in Wien lag mehr oder weniger brach – all dies zusammen hatte Mozart dazu bewogen, eine günstigere Wohnung zu suchen und in den Wiener Vorort Alsergrund zu ziehen. Tapetenwechsel ...
So still sein Leben in diesem Vorort war, so vehement schwang Mozart sich dort zu Produktivität auf: Drei seiner größten (und leider auch letzten) Sinfonien warf er im Sommer 1788 aufs Papier – am 26. Juni trug er die Es-Dur-Sinfonie in sein Werkverzeichnis ein, am 25. Juli die g-Moll-Sinfonie und am 10. August die so genannte Jupiter-Sinfonie in C-Dur. Drei Sinfonien in knapp zwei Monaten? Und nicht irgendwelche Werklein, sondern veritable Meisterwerke? Wow! Noch dazu scheinbar ohne Anlass geschrieben, denn warum und wofür Mozart die Trias verfasst hat, ist nicht überliefert. Möglicherweise plante er zwecks Schuldentilgung öffentliche Konzerte und schrieb sich ein Programm dafür. Oder aber er wollte die Werke drucken lassen und trat dafür spaßeshalber in einen spielerischen Wettbewerb mit seinem väterlichen Freund Haydn. Der hatte nämlich ein Jahr zuvor in Wien drei Sinfonien veröffentlicht, die ebenfalls in den Tonarten C-Dur, g-Moll und Es-Dur stehen ... Also: Zufall oder Absicht? Das weiß wohl niemand. Immerhin wissen wir, dass Mozart sogar selbst ein wenig verblüfft war über seinen Vorort-Schaffensrausch: »Ich habe in den 10 Tagen, daß ich hier wohne mehr gearbeitet als in anderen Logis in 2 Monat«, berichtete er Puchberg, »und kämen mir nicht so oft so schwarze Gedanken (die ich nur mit Gewalt ausschlagen muß) würde es mir noch besser von Statten gehen, denn ich wohne angenehm, bequem – und wohlfeil.«
»Schwarze Gedanken« ... Während diese in der g-Moll-Sinfonie noch hörbar verhandelt werden, scheint es in der Jupiter, als habe Mozart sie einfach wegleuchten wollen, schuf er doch mit diesem Werk eine kunstvolle Variation über das Licht, über C-Dur – jeder einzelne Ton strahlt und leuchtet um die Wette, vor allem im Finalsatz, der mit seinem Fugato und seiner Länge alles bisher Dagewesene sprengt. Tatsächlich sind Helligkeit und Lebendigkeit die beiden Kriterien, die in dieser Sinfonie bestechen. Als habe Mozart die Stille der Vorstadt wenigstens auf den Notenlinien beleben wollen, holte er alles aufs Papier, was für Wirbel sorgt: Höchst unterschiedliche Motive prallen aufeinander, streiten sich, necken sich, amüsieren sich. Kontraste ohne Ende. Jeder Ton ist markant und zart zugleich, jeder einzelne Moment atmet Esprit und Geistesblitz. Außerdem bietet Mozart Dramatik pur – denn wie gestisch ist diese Musik! Als sei das Orchester eine Opernbühne, versammeln sich höchst heterogene Protagonisten, die wiederum höchst heterogene Charaktere und emotionale Zustände ins Rennen werfen. Mozarts Genie als Musikdramatiker, sein exorbitant farbiges, schillerndes Einfangen von Gefühlen und Konflikten nutzt er virtuos auch im instrumentalen Bereich. Das große Finale der Sinfonie könnte glatt als nonverbales Opern-Ensemble durchgehen: Wilde Debatten finden da statt, großes Palaver rundum, doch schließlich münden die leidenschaftlichen Diskussionen in ein allumfassendes gemeinsames Gelächter. Als wollte Mozart einige seiner größten Werke in einem bündeln, blitzen immer wieder Reminiszenzen an die Tonsprache eines Don Giovanni oder einer Zauberflöte durch.
An die vierzig Minuten kann eine Aufführung dauern – eine solche Sinfonie hatte man nie zuvor gehört. Zwar stammt der Name Jupiter nicht von Mozart, sondern wurde dem Werk später von Konzertimpresario Johann Peter Salomon verliehen, doch er passt durchaus – zur leuchtenden Variation über die Tonart C-Dur ebenso wie zur monumental größenwahnsinnigen Gestaltung des Finales. Jupiter, der höchste aller römischen Götter, Jupiter, der Gott des Lichts. Zugleich auch ein Planet – gigantischer als alles, was auf der Erde vorstellbar ist. Es mag ein wenig pathetisch und kitschig klingen, wenn der österreichische Dirigent Bernhard Paumgartner schwärmt, die Jupiter-Sinfonie erhebe sich als »strahlender Ausklang über alles Erdenleid zu lichten Höhen. Beglückung des Seins im kühn spielenden Bezwingen der Materie zu edler Geistesform ist ihr Sinn«. Und doch, es trifft den Nerv. Mozarts letzte Sinfonie ist ein zukunftsweisender Meilenstein, der spätere Sinfoniker wie Beethoven, Brahms, Mahler inspiriert hat – ein Wurf auf höchster Ebene. Für uns heutige Hörende ein kraftvoller, energetischer, ermutigender musikalischer Hoffnungsschimmer. Nicht einfach ein Perspektivenwechsel, sondern eine richtig große Perspektive. Atmen wir sie also ganz ganz tief ein, diese Sinfonie ...